Ein Essay von Sabiene Jahn
Am 31. August 2018 starb Alexander Sachartschenko, Präsident der Volksrepublik Donezk, bei einem Bombenattentat im Café „Separ“. Sieben Jahre später bleibt die Frage, warum ein Bergmannssohn aus dem Donbass zu einer Symbolfigur wurde, deren Botschaft im Westen kaum verstanden wurde.
(Erstveröffentlichung am 4. September 2025 auf globalbridge.ch)
Donezk im Frühjahr 2018, vier Monate vor dem Attentat. Auf dem Bild (v.l.n.r.): Journalistin Sabiene Jahn, Ministerpräsident der DVR, Alexander Sachartschenko, Dolmetscherin Lilia und die freie Journalistin Biggy.
(Wer Sabiene Jahn lieber zuhört als zu lesen, siehe unten)
Am 2. September 2018 stand Donezk still. Zehntausende Menschen säumten die Straßen, Blumen in den Händen, Trauerflor an den Balkonen. Der Sarg Alexander W. Sachartschenkos, Präsident der Volksrepublik Donezk, wurde durch die Stadt getragen. Die Menschen klatschten unaufhörlich in stillem Respekt – ein rhythmischer, gleichmäßiger Beifall, der wie ein Herzschlag durch die Stadt ging. Donezk nahm Abschied von einem Mann, den sie verehrten. Ich hatte ihn vier Monate zuvor kennengelernt. Was mich damals traf, war nicht sein Rang, sondern diese eigentümliche Aura, die ihn umgab. In all dem Schlimmen strahlte er väterliche Ruhe aus. Er besaß Humor, hörte interessiert zu. Seine Stärke lag in einer inneren Gewissheit, die man nur selten bei einem Menschen findet, und in Mut. Für viele Menschen im Donbass wurde Alexander Sachartschenko zur Symbolfigur, weil er etwas tat, was andere Kommandeure vermieden. Er stellte sich selbst in die erste Reihe. „Nach Vorschriften muss das zahlenmäßige Übergewicht beim Angriff mindestens drei zu eins betragen, nach amerikanischen Normen sechs zu eins. Bei uns war es umgekehrt. Wir hatten weniger. Aber wir nahmen Debalzewo in drei Tagen“, erinnerte er sich an einen der bedeutenden Kämpfe.
Auch bei der erbitterten Schlacht um den Hügel Saur-Mogila im Sommer 2014 zeigte sich diese Haltung. „Wenn wir Saur-Mogila verloren hätten, wäre der ganze Süden offen gewesen. Mariupol, Donezk – alles wäre gefallen. Deshalb mussten wir dort bleiben, koste es, was es wolle“. „Saur-Mogila war kein Hügel mehr, sondern ein Kraterfeld. Jeden Tag fielen Dutzende, manchmal mehr. Die Erde selbst war zerfetzt, die Gräben voller Blut“, notierte Prilepin in seinem Tagebuch. Schon im Zweiten Weltkrieg war der Hügel hart umkämpft, jetzt wieder. Ein Kamerad beschrieb ihn: „Er konnte an der Frontlinie stehen, mit Zigarette im Mund, ruhig Befehle geben. Keine Hektik, kein Geschrei“. Seine Führungsweise unterschied sich von jener vieler anderer Kommandeure. Er setzte auf Vertrauen. „Er schrie nicht, er erklärte. Selbst im Gefecht sagte er: ‚Ruhig, Jungs. Wir machen das“. Ein anderer ergänzte: „Er war unbeirrbar. Wenn er sagte: ‚Wir gehen‘, dann gingen alle. Weil man wusste: er geht mit“. Seine größte Angst war nicht zu sterben, sondern dass die Leute ihm nicht folgen würden. „Aber sie folgten – gerade weil er selbst das Risiko trug“. Damit verband sich sein Bild als Held mit einer Haltung: Dasselbe Risiko tragen, das dieselben Männer tagtäglich ihr Leben kostete. Sein Freund, der Schriftsteller Sachar Prilepin, der ihn einige Zeit begleitet hatte, schrieb damals: „Mut – das war er. Ehre – das war er. Sein Herz brannte, sein Blick war geradeaus gerichtet, er wich nicht aus. Er war zu gut für einen Politiker. Er war zu mutig für einen Soldaten. Deshalb wurde er getötet.“
Alexander Sachartschenko wurde am 26. Juni 1976 in Donezk geboren, in einem Viertel namens Ignatjewka. „Dort lebt Arbeitervolk, dort gibt es Straßenleben, manchmal auch das Leben von Banditen“, erinnerte er sich. Er boxte, er rang, trainierte beinahe zweimal täglich. Nach der Schule schloss er das Technikum für Industrieautomation mit Auszeichnung ab, versuchte sich an einem Jurastudium, arbeitete als Elektromechaniker im Bergbau und wurde später Unternehmer. Doch mehr noch als sein beruflicher Weg prägte ihn das Gefühl der Herkunft. Er trug seine Familiengeschichte wie ein inneres Abzeichen. „Die Gene haben gewirkt. Mit der Muttermilch hat man all dies aufgenommen. In unserer Familie gibt es sieben Helden der Sowjetunion. Einer meiner Ahnen erhielt von Suworow einen Silberrubel für den Übergang über die Alpen.“ Der Name Suworow war für ihn kein Zufall. Generalissimus Alexander Suworow (1730–1800) gilt bis heute als größter Feldherr Russlands. Er nahm an sieben großen Kriegen teil, gewann sechzig Schlachten und verlor keine einzige. Berühmt ist sein Satz: „Vor dem tapferen russischen Grenadier kann keine Armee der Welt bestehen.“ Für Sachartschenko war die Erinnerung an diesen Silberrubel kein bloßes Familienerbstück, sondern ein Symbol, dass Mut, Treue und Pflichtbewusstsein Teil des Blutes waren, das er in sich trug. An seinem Gürtel trug er oft einen schweren Kosakendolch. „Das ist nicht mein Dolch“, sagte er, „das ist der meines Ahnen. Ich werde ihn meinem Sohn übergeben.“ In diesem Bild lag seine Haltung. Das Vergangene nicht als Last, sondern als Auftrag zu begreifen.
Rückblende: Der Frühling 2014 brachte für den Donbass zunächst keine Schlachten, sondern Kundgebungen. Auf dem Leninplatz in Donezk wehten Transparente: „Freiheit für die russische Sprache!“ stand auf einem, „Donbass mit Russland!“ auf einem anderen. Die Menge rief im Chor: „Russland! Russland!“ – und dann: „Russen, vorwärts!“ Prilepin, der als Chronist vor Ort war, notierte in sein Tagebuch: „Die Rufe wurden rhythmisch, sie rollten wie Wellen über den Platz. Es war nicht mehr nur Protest – es war das Erwachen eines Gefühls.“ Wer an diesen Tagen auf dem Platz stand, spürte, dass eine Schwelle überschritten wurde. „Das Wort war gefallen, und es ließ sich nicht zurückholen.“ Eine Frau, die ihre Tochter dabeihatte, erinnerte sich: „Es war wie ein Fest. Sie rief die Parolen mit, schwenkte ihr Fähnchen. Wir fühlten uns plötzlich wie Viele.“ Ein älterer Bergmann sagte: „Wir wussten, dass man uns nicht zuhören würde. Aber wir wollten, dass sie uns wenigstens sehen.“
Doch im Hintergrund veränderte sich die Lage. Der Donezker Andrei Trapeznikow schilderte, wie Studenten „mannschaftsweise“ nach Kiew gebracht wurden, „fast unter Stockschlägen – es musste sein!“ Bald tauchten „Leute besonderer Art“ auf: Sicherheitskräfte, Instruktoren. Jeden Morgen gab es Übungen, „Wand gegen Wand“, dann Schilde, dann Würfe. Schließlich begannen sie, Molotowcocktails zu füllen, sie in Schneehaufen zu verstecken – ganze Batterien, bereit zum Einsatz. Politiker tauchten auf dem Maidan auf, „verteilten Instruktionen, was und wie zu tun sei“.
Noch 2013 dachte Alexander Sachartschenko nicht an Krieg. Gemeinsam mit seiner Frau plante er eine Reise nach Argentinien. „Wir wollten eine Behandlung durchführen lassen, weil wir kein viertes Kind bekommen konnten. Wir hatten drei Söhne, wir wollten eine Tochter.“ Es war ein familiärer Traum, unspektakulär und privat. Doch dieser Plan wurde vom Maidan hinweggefegt. „Ich sagte zu meiner Frau: Wir werden nirgendwohin fliegen. Ich fuhr nach Charkiw, dann nach Kiew. Ich gründete ein Bataillon, organisierte achtzehn Waffenlieferungen und wurde Kommandeur.“ Er handelte nicht aus Kalkül, sondern aus dem Gefühl, dass es keine Alternative mehr gab. Mit seinem Verband „Oplot Donbassa“ besetzte er am 16. April 2014 das Donezker Stadtparlament, was der Milliardär Rinat Achmetow mit seinen Leuten besetzen wollte. Sachartschenko forderte ein Referendum und nahm kurz darauf das Fernsehzentrum ein. Er erinnerte sich: „Ich habe es so gründlich vermint und die Verteidigung so angelegt, dass selbst Speznas-Offiziere (Spezialeinheiten, die Red.) mir sagten, sie hätten sich an einen Sturm nicht herangetraut.“
Von Jeffrey D. Sachs, aus dem Englischen übersetzt von Klaus-Dieter Kolenda
(mit freundlicher Übernahme von den NachDenkSeiten)
Jeffrey Sachs[1] ist ein herausragender Wirtschaftswissenschaftler der Columbia-Universität in New York und seit Jahrzehnten ein weltweit tätiger UN-Diplomat. Er kritisiert seit vielen Jahren grundsätzlich die US-amerikanische Außenpolitik und setzt sich in vielen Ländern für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung ein. Der vorliegende umfangreiche und aktuelle Essay von Sachs[2] beschäftigt sich vor allem mit der gescheiterten europäischen Außenpolitik in Bezug auf den Ukraine-Krieg. Damit ist die Außenpolitik der EU gemeint. Diese zeichnet sich durch eine vasallenartige Unterwürfigkeit gegenüber den USA und eine unnötige, aber gefährliche Feindschaft gegenüber Russland aus. Stattdessen sollte sie die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen und die Möglichkeiten der Diplomatie nutzen, um Frieden und nationale Interessen der EU-Staaten zu fördern. Die Übertragung ins Deutsche erfolgte von Klaus-Dieter Kolenda mit freundlicher Genehmigung von Sonia Sachs. Dabei wurden vom Übersetzer einige Zwischenüberschriften ergänzt und einige Passagen durch Fettdruck hervorgehoben.
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Vertont wurde er mehrfach:
Die Europäische Union (EU) braucht eine neue Außenpolitik, die sich an den wahren Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen Europas orientiert. Die EU befindet sich derzeit in einer selbst geschaffenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Falle, die durch eine gefährliche Feindschaft gegenüber Russland, Misstrauen gegenüber China und eine extreme Verwundbarkeit von Seiten der Vereinigten Staaten gekennzeichnet ist. Europas Außenpolitik ist fast ausschließlich von der Angst vor Russland und China getrieben – was zu einer sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten geführt hat.
Die Unterwürfigkeit Europas gegenüber den USA rührt vor allem von der vorherrschenden Angst vor Russland her, einer Angst, die durch die russophoben Staaten Osteuropas und ein falsches Narrativ über den Ukraine-Krieg noch verstärkt wird.
Basierend auf dem Glauben, dass Russland ihre größte Sicherheitsbedrohung ist, ordnet die EU alle ihre anderen außenpolitischen Themen – solche wirtschaftlicher Art und in den Bereichen Handel, Umwelt, Technologie und Diplomatie – den USA unter. Ironischerweise klammert sie sich eng an Washington an, obwohl die Vereinigten Staaten in ihrer eigenen Außenpolitik gegenüber der EU schwächer, instabiler, unberechenbarer, irrationaler und gefährlicher geworden sind, sogar bis zu dem Punkt, an dem sie die europäische Souveränität in Grönland offen bedrohen.
Um eine neue Außenpolitik zu entwerfen, muss Europa die falsche Prämisse seiner extremen Verwundbarkeit gegenüber Russland überwinden. Das Narrativ von Brüssel, der NATO und dem Vereinigten Königreich besagt, dass Russland von Natur aus expansionistisch ist und Europa überrennen wird, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Die sowjetische Besetzung Osteuropas von 1945 bis 1991 wird heute als ein Beweis für diese Bedrohung angesehen. Dieses falsche Narrativ beruht jedoch auf einem Missverständnis des russischen Verhaltens sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart.
Der erste Teil dieses Essays zielt darauf ab, die falsche Prämisse zu korrigieren, dass Russland eine schreckliche Bedrohung für Europa darstellt. Der zweite Teil befasst sich mit einer neuen europäischen Außenpolitik, sobald Europa seine irrationale Russophobie überwunden hat.
Europas Außenpolitik geht von einer angeblichen Sicherheitsbedrohung Europas durch Russland aus. Doch diese Prämisse ist falsch.
Russland wurde in den letzten zwei Jahrhunderten wiederholt von den westlichen Großmächten (insbesondere Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten) überfallen und sucht seit Langem Sicherheit durch eine Pufferzone zwischen sich und den Westmächten.
Die stark umkämpfte Pufferzone umfasst das heutige Polen, die Ukraine, Finnland und die baltischen Staaten. Diese Region zwischen den Westmächten und Russland ist für die wichtigsten Sicherheitsdilemmata verantwortlich, mit denen Westeuropa und Russland konfrontiert sind.
Zu den großen westlichen Kriegen, die seit 1800 gegen Russland geführt wurden, gehören:
Jeder dieser Kriege stellte eine existenzielle Bedrohung für das Überleben Russlands dar.
Aus russischer Sicht waren das Scheitern der Entmilitarisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die Gründung der NATO, die Eingliederung Westdeutschlands in die NATO im Jahr 1955, die Osterweiterung der NATO nach 1991 und die anhaltende Expansion von US-Militärstützpunkten und Raketensystemen in Osteuropa in der Nähe der russischen Grenzen die größten Bedrohungen für die nationale Sicherheit Russlands seit dem Zweiten Weltkrieg.
Auch Russland ist mehrfach in den Westen einmarschiert:
Diese russischen Aktionen werden von Europa als objektiver Beweis für Russlands Westexpansionismus angesehen, doch eine solche Sichtweise ist naiv, ahistorisch und propagandistisch.
In allen fünf Fällen handelte Russland, um seine nationale Sicherheit zu schützen – wie es sie sah –, und betrieb keinen Expansionismus nach Westen um seiner selbst willen. Diese grundlegende Wahrheit ist der Schlüssel zur Lösung des Konflikts zwischen Europa und Russland heute. Russland strebt keine Expansion nach Westen an.
Für Russland ist zentral das Streben nach nationaler Sicherheit. Doch der Westen hat es lange versäumt, Russlands zentrale nationale Sicherheitsinteressen anzuerkennen, geschweige denn zu respektieren.
Lasst uns deshalb diese fünf Fälle der angeblichen Westexpansion Russlands näher ansehen.
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