Deutscher Freidenker-Verband – Rheinland-Pfalz / Saarland

Lebe nach unseren Gesetzen

Ein Essay von Sabiene Jahn

Am 31. August 2018 starb Alexander Sachartschenko, Präsident der Volksrepublik Donezk, bei einem Bombenattentat im Café „Separ“. Sieben Jahre später bleibt die Frage, warum ein Bergmannssohn aus dem Donbass zu einer Symbolfigur wurde, deren Botschaft im Westen kaum verstanden wurde.

(Erstveröffentlichung am 4. September 2025 auf globalbridge.ch)

Lebe nach unseren Gesetzen

Donezk im Frühjahr 2018, vier Monate vor dem Attentat. Auf dem Bild (v.l.n.r.): Journalistin Sabiene Jahn, Ministerpräsident der DVR, Alexander Sachartschenko, Dolmetscherin Lilia und die freie Journalistin Biggy.

 

(Wer Sabiene Jahn lieber zuhört als zu lesen, siehe unten)

Am 2. September 2018 stand Donezk still. Zehntausende Menschen säumten die Straßen, Blumen in den Händen, Trauerflor an den Balkonen. Der Sarg Alexander W. Sachartschenkos, Präsident der Volksrepublik Donezk, wurde durch die Stadt getragen. Die Menschen klatschten unaufhörlich in stillem Respekt – ein rhythmischer, gleichmäßiger Beifall, der wie ein Herzschlag durch die Stadt ging. Donezk nahm Abschied von einem Mann, den sie verehrten. Ich hatte ihn vier Monate zuvor kennengelernt. Was mich damals traf, war nicht sein Rang, sondern diese eigentümliche Aura, die ihn umgab. In all dem Schlimmen strahlte er väterliche Ruhe aus. Er besaß Humor, hörte interessiert zu. Seine Stärke lag in einer inneren Gewissheit, die man nur selten bei einem Menschen findet, und in Mut. Für viele Menschen im Donbass wurde Alexander Sachartschenko zur Symbolfigur, weil er etwas tat, was andere Kommandeure vermieden. Er stellte sich selbst in die erste Reihe. „Nach Vorschriften muss das zahlenmäßige Übergewicht beim Angriff mindestens drei zu eins betragen, nach amerikanischen Normen sechs zu eins. Bei uns war es umgekehrt. Wir hatten weniger. Aber wir nahmen Debalzewo in drei Tagen“, erinnerte er sich an einen der bedeutenden Kämpfe.

Auch bei der erbitterten Schlacht um den Hügel Saur-Mogila im Sommer 2014 zeigte sich diese Haltung. „Wenn wir Saur-Mogila verloren hätten, wäre der ganze Süden offen gewesen. Mariupol, Donezk – alles wäre gefallen. Deshalb mussten wir dort bleiben, koste es, was es wolle“. „Saur-Mogila war kein Hügel mehr, sondern ein Kraterfeld. Jeden Tag fielen Dutzende, manchmal mehr. Die Erde selbst war zerfetzt, die Gräben voller Blut“, notierte Prilepin in seinem Tagebuch. Schon im Zweiten Weltkrieg war der Hügel hart umkämpft, jetzt wieder. Ein Kamerad beschrieb ihn: „Er konnte an der Frontlinie stehen, mit Zigarette im Mund, ruhig Befehle geben. Keine Hektik, kein Geschrei“. Seine Führungsweise unterschied sich von jener vieler anderer Kommandeure. Er setzte auf Vertrauen. „Er schrie nicht, er erklärte. Selbst im Gefecht sagte er: ‚Ruhig, Jungs. Wir machen das“. Ein anderer ergänzte: „Er war unbeirrbar. Wenn er sagte: ‚Wir gehen‘, dann gingen alle. Weil man wusste: er geht mit“. Seine größte Angst war nicht zu sterben, sondern dass die Leute ihm nicht folgen würden. „Aber sie folgten – gerade weil er selbst das Risiko trug“. Damit verband sich sein Bild als Held mit einer Haltung: Dasselbe Risiko tragen, das dieselben Männer tagtäglich ihr Leben kostete. Sein Freund, der Schriftsteller Sachar Prilepin, der ihn einige Zeit begleitet hatte, schrieb damals: „Mut – das war er. Ehre – das war er. Sein Herz brannte, sein Blick war geradeaus gerichtet, er wich nicht aus. Er war zu gut für einen Politiker. Er war zu mutig für einen Soldaten. Deshalb wurde er getötet.“

Alexander Sachartschenko wurde am 26. Juni 1976 in Donezk geboren, in einem Viertel namens Ignatjewka. „Dort lebt Arbeitervolk, dort gibt es Straßenleben, manchmal auch das Leben von Banditen“, erinnerte er sich. Er boxte, er rang, trainierte beinahe zweimal täglich. Nach der Schule schloss er das Technikum für Industrieautomation mit Auszeichnung ab, versuchte sich an einem Jurastudium, arbeitete als Elektromechaniker im Bergbau und wurde später Unternehmer. Doch mehr noch als sein beruflicher Weg prägte ihn das Gefühl der Herkunft. Er trug seine Familiengeschichte wie ein inneres Abzeichen. „Die Gene haben gewirkt. Mit der Muttermilch hat man all dies aufgenommen. In unserer Familie gibt es sieben Helden der Sowjetunion. Einer meiner Ahnen erhielt von Suworow einen Silberrubel für den Übergang über die Alpen.“ Der Name Suworow war für ihn kein Zufall. Generalissimus Alexander Suworow (1730–1800) gilt bis heute als größter Feldherr Russlands. Er nahm an sieben großen Kriegen teil, gewann sechzig Schlachten und verlor keine einzige. Berühmt ist sein Satz: „Vor dem tapferen russischen Grenadier kann keine Armee der Welt bestehen.“ Für Sachartschenko war die Erinnerung an diesen Silberrubel kein bloßes Familienerbstück, sondern ein Symbol, dass Mut, Treue und Pflichtbewusstsein Teil des Blutes waren, das er in sich trug. An seinem Gürtel trug er oft einen schweren Kosakendolch. „Das ist nicht mein Dolch“, sagte er, „das ist der meines Ahnen. Ich werde ihn meinem Sohn übergeben.“ In diesem Bild lag seine Haltung. Das Vergangene nicht als Last, sondern als Auftrag zu begreifen.

Jeder Kompromiss wirkt wie Verrat 

Rückblende: Der Frühling 2014 brachte für den Donbass zunächst keine Schlachten, sondern Kundgebungen. Auf dem Leninplatz in Donezk wehten Transparente: „Freiheit für die russische Sprache!“ stand auf einem, „Donbass mit Russland!“ auf einem anderen. Die Menge rief im Chor: „Russland! Russland!“ – und dann: „Russen, vorwärts!“ Prilepin, der als Chronist vor Ort war, notierte in sein Tagebuch: „Die Rufe wurden rhythmisch, sie rollten wie Wellen über den Platz. Es war nicht mehr nur Protest – es war das Erwachen eines Gefühls.“ Wer an diesen Tagen auf dem Platz stand, spürte, dass eine Schwelle überschritten wurde. „Das Wort war gefallen, und es ließ sich nicht zurückholen.“ Eine Frau, die ihre Tochter dabeihatte, erinnerte sich: „Es war wie ein Fest. Sie rief die Parolen mit, schwenkte ihr Fähnchen. Wir fühlten uns plötzlich wie Viele.“ Ein älterer Bergmann sagte: „Wir wussten, dass man uns nicht zuhören würde. Aber wir wollten, dass sie uns wenigstens sehen.“

Doch im Hintergrund veränderte sich die Lage. Der Donezker Andrei Trapeznikow schilderte, wie Studenten „mannschaftsweise“ nach Kiew gebracht wurden, „fast unter Stockschlägen – es musste sein!“ Bald tauchten „Leute besonderer Art“ auf: Sicherheitskräfte, Instruktoren. Jeden Morgen gab es Übungen, „Wand gegen Wand“, dann Schilde, dann Würfe. Schließlich begannen sie, Molotowcocktails zu füllen, sie in Schneehaufen zu verstecken – ganze Batterien, bereit zum Einsatz. Politiker tauchten auf dem Maidan auf, „verteilten Instruktionen, was und wie zu tun sei“.

Der entscheidende Wendepunkt

Noch 2013 dachte Alexander Sachartschenko nicht an Krieg. Gemeinsam mit seiner Frau plante er eine Reise nach Argentinien. „Wir wollten eine Behandlung durchführen lassen, weil wir kein viertes Kind bekommen konnten. Wir hatten drei Söhne, wir wollten eine Tochter.“ Es war ein familiärer Traum, unspektakulär und privat. Doch dieser Plan wurde vom Maidan hinweggefegt. „Ich sagte zu meiner Frau: Wir werden nirgendwohin fliegen. Ich fuhr nach Charkiw, dann nach Kiew. Ich gründete ein Bataillon, organisierte achtzehn Waffenlieferungen und wurde Kommandeur.“ Er handelte nicht aus Kalkül, sondern aus dem Gefühl, dass es keine Alternative mehr gab. Mit seinem Verband „Oplot Donbassa“ besetzte er am 16. April 2014 das Donezker Stadtparlament, was der Milliardär Rinat Achmetow mit seinen Leuten besetzen wollte. Sachartschenko forderte ein Referendum und nahm kurz darauf das Fernsehzentrum ein. Er erinnerte sich: „Ich habe es so gründlich vermint und die Verteidigung so angelegt, dass selbst Speznas-Offiziere (Spezialeinheiten, die Red.) mir sagten, sie hätten sich an einen Sturm nicht herangetraut.“

Die ersten Monate waren improvisiert, brutal und zugleich von Eigeninitiative geprägt. „Im März und April habe ich meine persönlichen Gelder ausgegeben“, sagte er. „Uniformen, Verpflegung, Sold – alles aus eigener Tasche.“ Prilepin beschreibt, wie Sachartschenko einen Teil seines unternehmerischen Vermögens in die Kämpfe steckte – eine riskante Investition. Sachartschenko organisierte Waffenkonvois über die russische Grenze. „Achtzehn Karawanen“ brachte er ins Land. Prilepin schreibt, dass „russische Spezialdienste“ an diesen Lieferungen beteiligt waren, doch nach Grenzübertritt seien die Transporte „frei jagbare Ziele“ für die ukrainische Luftwaffe gewesen. Drei Viertel dieser Lieferungen flossen an seinen Verband – und machten ihn zu einer Schlüsselfigur. Im August 2014 trat er vor die Kameras und erklärte: „Wir haben Hilfe aus Russland – eine Kolonne gepanzerter Technik und 1.200 Freiwillige.“ Prilepin kommentierte trocken: „ …es waren zwar Freiwillige, also solche, die freiwillig gingen, aber durchaus konkrete Teile der russischen Streitkräfte.“ Für die Menschen im Donbass war diese Ankunft ein Wendepunkt. Wo zuvor Freiwilligenverbände und Milizen improvisierten, standen nun gepanzerte Fahrzeuge und ausgebildete Männer.

Der Umsturz in Kiew im Februar 2014 bedeutete für Alexander Sachartschenko und viele Menschen im Donbass eine Zäsur, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Noch am 23. Februar 2014, einen Tag nach der Flucht Janukowytschs, hob die Werchowna Rada das Sprachgesetz von 2012 auf. Das Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ hatte Russisch als Regionalsprache in mehrheitlich russischsprachigen Gebieten erlaubt. Formal trat die Entscheidung nicht sofort in Kraft, doch symbolisch wirkte sie wie ein Fanal. „Da wurde klar, wo es der neuen Macht besonders juckt“, kommentierte Sachar Prilepin. Bereits am 22. Februar 2014 hob das Parlament ein anderes Gesetz auf, das bis dahin die öffentliche Leugnung oder Rechtfertigung von Verbrechen des Faschismus unter Strafe stellte. Die „Propagierung nationalsozialistischer Ideologie“ sowie das „Schänden oder Zerstören von Denkmälern, die den Kämpfern gegen den Nationalsozialismus gewidmet sind“, waren damit nicht länger strafbar. Mit anderen Worten, das Zeigen von NS-Symbolen, das Verherrlichen der Waffen-SS oder die Zerstörung antifaschistischer Denkmäler fiel nun nicht mehr unter ein Verbot. Für die Bevölkerung im Donbass war dies ein klares Signal, der neue Staat definierte seine Legitimität in Abgrenzung zur sowjetisch-russischen Erinnerung und stellte damit nicht nur die Sprache, sondern auch das historische Fundament in Frage.

In Kiew selbst beobachtete Prilepin das Auseinanderklaffen von Erzählung und Realität. Während westliche Medien berichteten, „die ganze Stadt sei auf dem Maidan“, schrieb er: „Aus unserem siebenstöckigen Haus ging niemand dorthin hinaus“. Für ihn war es eine Inszenierung, die das Land spaltete. Schon in den ersten Wochen nach dem Machtwechsel kippte für Alexander Sachartschenko das Geschehen von Protest zur Kriegslage. Er schilderte den eigenen Wendepunkt so: „Als wir aus Kiew wegfuhren und man mit scharfen Automatikgewehren, mit echter Kriegswaffe, auf uns schoss, verstand ich, lächerlich ist all das, womit wir bewaffnet waren – Jagdgewehre, Ketten, Schlagringe … Das ist kein Spiel, das ist Krieg“. Die Männer hatten einfache Mittel mitgenommen, weil sie Übergriffe erwarteten – Stöcke, Steine, Schlägereien. Aber keine scharfen Waffen. Als die ersten Salven fielen, war klar, dass es kein Zurück mehr geben würde. Parallel erreichten ihn Berichte aus den Dörfern: „Sie gingen gegen Zivilisten vor. Eine Frau in Nowoswetlowka verlor nach den Schlägen des Bataillons ‚Aidar‘ ihr Augenlicht“.

Das Massaker von Odessa am 2. Mai 2014 war für viele der entscheidende Wendepunkt. Prilepin notierte: „Das Geschehen in Odessa erschütterte eine enorme Zahl von Menschen durch den demonstrativen und geradezu zügellosen Charakter des massenhaften und bestialischen Massakers“. „In Odessa jedoch jagten die Euromaidan-Anhänger die ‚Separatisten‘ gezielt in das Gewerkschaftshaus und verbrannten es begeistert, unter Jubel“. Viele dachten, es sei noch eine Kundgebung. Aber als die ersten Kugeln fielen, war klar: „Es gibt keinen Weg zurück“. Für die Bevölkerung im Donbass war dies ein Schlüsselsignal. Die neue Macht in Kiew war nicht auf Ausgleich bedacht, sondern rüstete sich planmäßig für einen Krieg. Diejenigen, die noch gehofft hatten, die Ereignisse könnten in einem politischen Rahmen bleiben, mussten erkennen, dass die Konfrontation vorbereitet wurde – nicht nur im Inneren, sondern auch mit aktiver Unterstützung aus dem Ausland.

Amerikaner hatten Schlüssel zum Safe

Die Einmischung von außen nahm immer konkretere Gestalt an. „Im SBU sitzen zu siebzig Prozent Leute der CIA. Ohne Gewalt kann man sie von dort nicht entfernen. Du wirst aus deren Verteidigungsministerium nicht alle zugereisten Berater entfernen können,“ kommentiert Sachartschenko. „Ein Bekannter von mir, der im SBU arbeitete, erzählte,“ so Prilepin, „In einem Raum sitzt ein ukrainischer General, daneben – ein amerikanischer Offizier. Der Amerikaner hat den Schlüssel zum Safe. Der General geht hinein, öffnet mit dem Amerikaner zusammen, nimmt die Papiere, schließt wieder ab. So arbeiten sie. Das ist keine Partnerschaft, das ist eine Verwaltung.“ Auf dem Maidan tauchten Namen auf, die für ihn Beleg einer gezielten Regie waren: John Brennan, Geoffrey Pyatt, Chris Murphy, John McCain, Victoria Nuland, Guido Westerwelle, Catherine Ashton, Frans Timmermans, Linas Linkevičius. „Amerika und England bildeten ukrainische Militärs aus, ihre Geheimdienste lieferten Aufklärung, Lieferungen von Technik und Kommunikationsmitteln liefen“. Auch die britische Rolle blieb nicht auf Worte beschränkt. „Der SBU wurde nicht nur vom CIA, sondern auch von britischen Beratern kontrolliert“. In Jaworiw, im Westen der Ukraine bei Lwiw, „arbeiteten englische Instrukteure, die Bataillone nach NATO-Standards ausbildeten“. „Im Verteidigungsministerium erschienen britische Berater“. Im Mai 2014 liefen zusätzlich erste Luftbrücken. „Amerikanische Flugzeuge landeten in Kiew, brachten Kisten mit Uniformen, Kommunikation, Spezialtechnik“. Und im Westen schrieb man gleichzeitig: ‚Russland mischt sich ein, Russland liefert Waffen.‘

Andere Formationen, paramilitärische und neofaschistische, traten hinzu – und sie hatten Geldgeber. „Das Bataillon ‚Asow‘ wurde anfangs von ukrainischen Oligarchen, in erster Linie Kolomojsky, finanziert und aktiv durch das Innenministerium unterstützt“. Kolomojsky, der Bankier, nutzte seine Strukturen der PrivatBank, um gleich mehrere Einheiten auszurüsten: „Igor Kolomojsky finanzierte offen die Bataillone ‚Asow‘ und ‚Dnipro-1‘ über seine Strukturen der PrivatBank“. Auch der „Rechte Sektor“ gehörte dazu. „Der Rechte Sektor erhielt Geld von ukrainischen Geschäftsleuten und stand unter direktem Einfluss westlicher Kuriere“. Prilepin vermerkt nüchtern: „Es existierten auch andere – ‚Donbass‘, ‚Dnipro-1‘, ‚Kiew-1‘, von denen jeder seinen eigenen Schutzherrn unter den Oligarchen hatte“. Die Oligarchin Julia Timoschenko wiederum „unterstützte das Bataillon ‚Donbass‘ politisch und organisatorisch über ihren Block“.

Auch die OSZE, die eigentlich als neutrale Instanz gelten sollte, wurde bald mit Misstrauen betrachtet. „Die OSZE-Kameras stehen so, dass sie nur uns sehen… alle Informationen gehen sofort auf die andere Seite“. Selbst wenn die Mission bestätigte, dass ukrainische Truppen Schulen in Donezk beschossen – „mindestens zwei Beschüsse im September, bei denen Kinder und Erwachsene starben“ – erschienen die veröffentlichten Berichte in einer Sprache, die Sachartschenko als falsche Symmetrie empfand: zehn Einschläge von ukrainischer Seite neben einem einzigen Gegenschuss – bilanziert als „Beschuss auf beiden Seiten“. Amnesty International und Human Rights Watch bestätigten später Verbrechen ukrainischer Verbände, vom Einsatz verbotener Streumunition bis hin zu systematischen Übergriffen des Bataillons Aidar.

Mentalitätskarte des Konflikts

Für Alexander Sachartschenko war der Krieg im Donbass nicht nur eine Auseinandersetzung mit Waffen, sondern auch ein Spiegel der Gesellschaft. Immer wieder betonte er, dass die Kraft des Widerstands nicht aus politischen Zirkeln kam, sondern aus der Arbeiterklasse. „Den Krieg im Donbass haben Menschen im Alter zwischen 35 und 45 Jahren gewonnen“, sagte er. „Schachtarbeiter blockierten Straßen, sie waren besser organisiert, hatten höhere Selbstdisziplin. Dagegen standen die Städter mit ihrer Psychologie des Dorfkleinbürgers: ‚Meine Hütte steht am Rand, das ist meins, das gehört dem Nachbarn‘. Der Proletarier war immer besser organisiert.“ Prilepin bestätigt diesen Eindruck in seinen Aufzeichnungen. Bergleute, die aus den Schächten kamen, seien es gewohnt gewesen, in Kollektiven zu handeln. Ihre Disziplin und ihre Gewohnheit, Verantwortung füreinander zu tragen, hätten sie zu einer natürlichen Stütze des Aufstands gemacht. Für viele wurden die Kohlegruben so zur Schule der Selbstverteidigung.

Der Kontrast zeigte sich besonders in Charkiw. Ein Augenzeuge erinnerte sich: „Warum hat Charkiw verloren? Dort waren Aktivisten, die die Leute immer wieder ins Konsulat führten, um Petitionen zu schreiben, anstatt zu handeln. Am nächsten Tag kamen schon ein Drittel weniger. Die Menschen dort waren Arbeiter, aber sie ermüdeten. Das Ganze zerstreute sich, und am Ende blieb nur die Jugend – und was wollte die? Sich austoben.“ So entstand eine Art Mentalitätskarte des Konflikts. Im Donbass mit seinen Bergarbeiterstädten griff man zu den Waffen, in den Zentren mit stärkerem intellektuellem Publikum wie Charkiw zerfaserte die Bewegung. Auch die Sprachfrage fügte er in dieses Bild. „Kein einheitliches, reines Ukrainisch gibt es. Vielleicht in Winniza oder Schytomyr. In Kiew selbst ist der Akzent polnisch, und schon in Poltawa und Sumy herrscht ein starkes Russisch.“ Für ihn war das ein Argument gegen jede Vorstellung, die Ukraine könne eine homogene Nation sein. Stattdessen sah er ein Mosaik, in dem der Donbass mit seiner russischen Prägung einen unverzichtbaren, aber nicht verhandelbaren Teil darstellte.

Das Leben darf nicht stillstehen

Sachartschenko war kein Mann der großen Tribünen. Sein Charisma zeigte sich im Kleinen, in Begegnungen, die er nicht inszenierte. Prilepin beschreibt ihn als jemanden, der Nähe über Gesten und Worte herstellte. Nach der Einnahme von Debalzewo, einer Stadt, die im Februar 2015 zum Symbol der Kämpfe wurde, übergab er den Opfern des Krieges Schlüssel zu neuen Wohnungen. Er sprach ruhig, ohne Pathos: Niemand sei vergessen, jeder habe wieder ein Dach über dem Kopf. Für die Betroffenen war es nicht nur eine pragmatische Hilfe, sondern eine Botschaft – dass ihr Leiden nicht ins Leere fiel. Im Gespräch mit Soldaten blieb er ähnlich nüchtern. Sie hätten nicht für Geld gekämpft, sondern für ihr Zuhause. „Das kann niemand nehmen“, sagte er. Sein Führungsstil war weniger Befehl als Bestätigung, dass die Männer für etwas kämpften, das ihnen gehörte.

Es gab Momente, die wie Momentaufnahmen seiner Persönlichkeit wirken. Einmal lag er in einem Krankenhaus, am Bein verletzt, angeschlossen an Infusionen. Prilepin schildert, wie er ungeduldig auf die Tropfen starrte und schließlich sagte: „Das Leben darf nicht stillstehen.“ Selbst im Stillstand wirkte er wie jemand, der Bewegung forderte – von sich, von anderen, vom Schicksal. Eine andere Szene spielte sich in einem Restaurant ab, in dem ausschließlich auf Ukrainisch bedient wurde. Andere hätten sich provoziert gefühlt. Er zuckte nur die Schultern: „Wenn die Leute das wollen – warum sollte es mich stören.“ In dieser Gleichgültigkeit lag eine Mischung aus Gelassenheit und Überlegenheit – er wusste, wer er war, und brauchte keine Gesten, um es zu beweisen. Auch an der Front zeigte er diese Haltung. In Debalzewo führte er selbst die Offensive an, stand nicht hinter den Linien, sondern ging mit seinen Männern. Prilepin beschreibt, wie er sich sogar an den Granatwerfer stellte. „Die Kämpfer flippten aus“, notierte er, weil ihr Präsident selbst schoss. Sachartschenko wirkte im Alltag genauso wie an der Front: fest, unbeirrbar, manchmal schroff, doch immer mit einem Kern von Fürsorge.

Ein tragisches Paradox

Sachartschenkos Denken war geprägt von knappen, fast aphoristischen Sätzen. In Gesprächen mit Prilepin fielen sie wie beiläufig, doch sie klangen nach. „Freiheit und Würde deines Stammes stehen über deiner persönlichen Freiheit.“ „Überwindung ist die normale Lebensform.“ „Männer können einander töten – leider ist das eine Gegebenheit.“ Es waren Lebensmaximen, geboren aus Erfahrung, Härte und einer Art stoischem Pragmatismus. Besonders klar zeigte sich sein Weltbild an der Sprachfrage. „Sie können die Russen nicht mögen. Aber sie sind verpflichtet, die Bürger ihres eigenen Staates zu respektieren. Die Hälfte der Bevölkerung betrachtet die russische Sprache als ihre Muttersprache. Die Sprache der Mehrheit ist jedoch aus den Pässen entfernt worden. Dies entzieht sich jeglicher vernünftigen Erklärung.“ Sprache war für ihn kein Verwaltungsdetail, es war Identität. 2014 sprach er selbst noch Ukrainisch, gab später aber zu: „Die Worte gehen nicht über die Zähne. Ich kann nicht. Noch nicht.“ Paradox blieb, dass er in der Donezker Volksrepublik (DNR) das Ukrainische als zweite Amtssprache beibehielt. Diese Ambivalenz spiegelte seine Realität: auf der einen Seite die Überzeugung, dass das Russische Kern der Identität sei, auf der anderen Seite die Tatsache, dass das Ukrainische in der Region tief verwurzelt blieb. Für ihn war das kein Widerspruch, sondern ein Nebeneinander, das nur in Kiew politisch unhaltbar geworden war.

Auch in der Wirtschaft versuchte er, Brücken zu bauen. „Ich habe versucht, Donezker Unternehmer für die Republik zu gewinnen. Ich wollte, dass sie mit uns arbeiten. Aber sie wollten nach Kiew oder gar nichts.“ Als er scheiterte, wurden Betriebe verstaatlicht. „In der DNR begann man Sozialismus zu bauen… nicht aus Ideologie, sondern weil sich in der Krise keine andere Wirtschaftsform eignete“, schreibt Prilepin. Sachartschenkos Sprache war von Härte durchzogen. „Es wird Krieg geben. Alles, was sich durch Krieg entscheiden muss, wird sich durch Krieg entscheiden.“ Und: „Du erkennst deine Kraft erst, wenn du mit dem Stiefel an die Kehle trittst und sagst: Ich kann dir jetzt den Hals zudrücken oder ich nehme den Stiefel weg und hebe dich hoch: Lebe. Aber lebe nach unseren Gesetzen, akzeptiere unsere Wahrheit. Wenn nicht – dann geh in das Europa, das du dir ausgedacht hast.“ Gleichzeitig bestand er darauf: „Wir sind mit den Menschen auf der anderen Seite – ein Blut. Hier kann es keine Gewinner und Verlierer geben.“

Kein Frieden und doppelter Verrat

Im Februar 2015 stand die Stadt Debalzewo im Mittelpunkt des Krieges. Debalzewo war ein Eisenbahnknotenpunkt, der die Nachschublinien im Donbass bestimmte. Wer Debalzewo hielt, kontrollierte den Zugang nach Donezk. Prilepin schreibt dazu: „Für die Ukraine wurde Debalzewo zum Trauma, für den Donbass zum Beweis, dass man eine überlegene Armee einkesseln, schlagen und vertreiben konnte.“ Für Sachartschenko wurde sie zur Nagelprobe seiner Führung. „Wir nahmen Debalzewo in drei Tagen. Wir hatten 1.300 Mann, auf der anderen Seite waren es 5.000.“ Es war eine Schlacht voller Improvisation. Am 17. Februar 2015 wurde er verwundet. „Ich erhielt eine Verletzung am rechten Bein, über der Ferse, im Lauf. Wenn ich nach vorn gefallen wäre, hätte es mir die Wirbelsäule durchschlagen.“ Debalzewo war für viele im Donbass der Beweis, dass sie sich gegen eine überlegene Armee behaupten konnten. Für Kiew hingegen war es ein Trauma, das in die Minsker Verhandlungen hineinwirkte.

Minsk I und Minsk II sollten Frieden bringen, zumindest auf dem Papier. Für viele in Europa waren sie diplomatische Rettungsanker. Doch für die Menschen im Donbass hatten sie eine andere Bedeutung. Formal boten sie genau das, was sie gefordert hatten – Sonderstatus, Garantien für die russische Sprache, eigene Milizen, Autonomie in Justiz und Wirtschaft. „Wir wollten das mit Kiew friedlich klären“, hatte Sachartschenko gesagt. Minsk schien dieser Weg zu sein. Doch bald wurde klar, dass es nur ein Weg auf Zeit war. Für den Donbass wirkte das wie ein doppelter Verrat. Man ließ sie jahrelang auf Garantien hoffen – und nutzte die Minsk-Vereinbarungen zugleich, um die Gegenseite aufzurüsten. Prilepin kommentierte: „Auf dem Papier erfüllte Minsk ihre Forderungen, in der Wirklichkeit aber wurde kein einziger Punkt gesichert.“ Jede neue Granate auf ein Wohnhaus, jeder Tote bestätigte das Gefühl, dies ist kein Frieden, sondern ein Aufschub.

Abgebrochene Verbindungen

Am 31. August 2018, um 17:28 Uhr, explodierte im Donezker Café „Separ“ eine Bombe. Alexander Sachartschenko starb noch am Tatort. Die Nachricht von seinem Tod erreichte mich nicht durch die öffentlichen Nachrichten. Mein Freund Artjom, er wohnt in Moskau, schickte mir ein Video, noch bevor der Tod Sachartschenkos im deutschen Fernsehen bekannt wurde. Man sah, wie er in den Club eintrat – und dann die Explosion. Ich war sprachlos, konnte es nicht glauben. Ich spielte es immer und immer wieder ab, als müsste ich mit eigenen Augen erkennen, was schon nicht mehr zu ändern war. Gewiss war nur, er und einer seiner Begleiter waren tot. Ich machte mir – so skurril es klingen mag – Musik an. Dieselbe Musik, die ich im Frühjahr 2018 in Donezk gehört hatte, als ich durch zerstörte Ortschaften fuhr, um die Angst zu verlieren. Es war Mikhail Krug, „Wladimirsky Zentral“. Die Akkorde rollten, die Stimme sprach von Härte und Schicksal, von Gefängnis und Treue. In dieser Musik lag etwas, das ich in Donezk gespürt hatte, eine Trauer, die sich nicht in Worte fassen lässt, und ein Stolz, der nicht vergeht.

Zu unserem Treffen vier Monate zuvor hatte Sachartschenko mir auf seinem Handy einen Kurzfilm gezeigt. „Дежурство“ (russischer Titel) bzw. „Phone Duty“, der Titel auf Englisch, gedreht von Lenar Kamalov mit Sachar Prilepin in der Hauptrolle, erzählt eine wahre Geschichte: Ein Kämpfer im Donbass nimmt die Telefone gefallener ukrainischer Soldaten entgegen. Am anderen Ende warten Mütter, Ehefrauen, Kinder – Menschen, die nicht wissen, dass sie ihre Liebsten nie mehr hören werden. Weil Kiew viele Tote nicht zurückforderte oder sie über den Tod ihrer Verwanden nicht informierte, um die Entschädigungen an ihre Familien nicht zu zahlen, machten es sich die Männer im Donbass zur Aufgabe, diese schlimme „Pflicht“, so heisst der Film im Russischen, zu übernehmen. Denn schließlich ist die Ungewissheit über den Verbleib geliebter Menschen eine Tragödie. Im Film legt Sachar Prilepin ein Telefon beiseite – und plötzlich beginnen dutzende Handys gleichzeitig zu klingeln, Gesichter von Frauen leuchten auf, weibliche Namen, bis zuletzt nur ein Name im Display zu lesen ist – „Mama“.

Der Film wurde 2018 beim Tribeca Film Festival in New York gezeigt, das von Robert De Niro gegründet worden war und zu den bedeutendsten internationalen Plattformen für unabhängige Filme zählt. Dort gewann „Phone Duty“ den Preis für den besten narrativen Kurzfilm. Für Alexander Sachartschenko war es wichtig, dass Menschen außerhalb des Donbass verstanden, was er bedeuten sollte: Dass Krieg am Ende nicht nur von Siegen erzählt, sondern auch von abgebrochenen Verbindungen und einer Mutter, die vergeblich auf den Anruf ihres Sohnes wartet.

Quellen und Anmerkungen:

1.) Дежурство (Pflicht) – Phone Duty (2018): https://ok.ru/video/1587018336776
2.) Buch Sachar Prilepin: Alles, was entschieden werden muss, Chronik des Krieges 2014–2022:  https://www.litres.ru/book/zahar-prilepin/vse-chto-dolzhno-razreshitsya-hronika-pochti-beskonechnoy-v-19057722/):
3.) Benoît Paré – OSZE-Analyst im Donbass (Tagebuch 2015–2022): https://www.amazon.fr/que-jai-Ukraine-observateur-international/dp/B0F7FLR2Z4
4. Essay: Hygiene für den Geist – Ein Essay von Sabiene Jahn –
https://youtu.be/uWAI9lD5VtE

 

Lebe nach unseren Gesetzen – vorgelesen von Sabiene Jahn:

(ab Minute 30:10 der im Text angesprochene Kurzfilm:  Дежурство [Pflicht] – Phone Duty [Telefondienst] von 2018)

 

Sabiene Jahn, Trägerin des Kölner Karlspreises für Engagierte Literatur und Publizistik, ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes, LV Rheinland-Pfalz / Saarland

Siehe auch:

Die Abspaltung des Donbass von der Ukraine war kein Verstoß gegen das Völkerrecht

OSZE-Beobachter deckt Lügen über den Ukraine-Krieg auf. Glenn Diesen im Interview mit Benoît Paré:

 


Bild(er):  Sabiene Jahn
Dieser Beitrag wurde am Freitag, 05. September 2025 um 18:18 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Allgemein abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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