Vorbemerkung (Red.):
Die Friedensbewegung der 1980er Jahre war eine kraftvolle, breite gesellschaftliche Strömung, die in Deutschland Hunderttausende bis Millionen Menschen mobilisieren konnte. Mit Aktionen wie dem „Krefelder Appell“, der rund vier Millionen Unterschriften sammelte, übte die Bewegung einen enormen gesellschaftlichen Druck aus. Dieser führte zu einem gewissen Umdenken bei Parlamentariern, wie der langjährige CDU-Abgeordnete Willy Wimmer beobachtete. Aber auch zu einer veränderten Strategie von Seiten der USA, die die „Abtrünnigen“ z. B. über Think-Tanks wieder „ins Boot holte“.
Heute, in einer Zeit multipler internationaler Krisen, in denen eine geeinte Friedensbewegung mehr denn je nötig wäre, bleiben Demonstrationen wie jüngst am 3. Oktober in Berlin und Stuttgart daher eher klein, eine vergleichbar schlagkräftige, einheitliche „Massenbewegung“ bleibt bisher aus. Das friedenspolitische Lager ist tief gespalten.
Die heutige Fragmentierung und Schwäche der Bewegung ist vor allem ein Ergebnis einer verengten öffentlichen Debatte. Während alternative Analysen und friedenspolitische Stimmen in YouTube-Kanälen wie Neutrality Studies und Dialogue Works oder auf Plattformen wie NachDenkSeiten, Apolut, Free21 und Freidenker zwar präsent sind, erreichen sie den breiten gesellschaftlichen Mainstream nicht: Eine lebendige, kontroverse Debatte über die Ursachen von Konflikten und gangbare Wege zum Frieden wird an den Rand gedrängt. Ihre Protagonisten werden verleumdet oder mittlerweile auch schon juristisch verfolgt. Stattdessen herrscht in weiten Teilen der Leitmedien ein Deutungsrahmen vor, der komplexe geopolitischen Realitäten vereinfacht und verdreht und keinen Raum für alternative Perspektiven lässt. Dieser angebliche Konsens, der nicht auf echter Information, sondern auf einander verstärkenden Narrativen beruht, verwirrt die Bevölkerung und bewirkt eine Abwendung vom politischen Geschehen. Diese „Kriegserklärung ohne Waffen an die Bevölkerung“ wird von ihr jedoch mehrheitlich nicht erkannt bzw. geleugnet.
Zugleich betreiben die Nato-affinen, von jahr(zehnt)e-langer Manipulation durch Think-Tanks geformten Politiker Europas eine von Tag zu Tag wachsende, immer gefährlichere Kriegsrhetorik. Der US-amerikanische Ex-Botschafter Chas Freeman spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise von einer „Koalition der Verblendeten“ (anstatt der „Koalition der Willigen“).
Diese intellektuelle Blase, die eine kritische Masse an Menschen in einem eingeschränkten Informationskosmos hält, muss platzen – so Chas Freeman, um Raum für eine echte, ergebnisoffene Friedensdiskussion zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund entwickelt Jürgen Mietz seine hervorragende Analyse. Auf Free21.org spürt er mit der dringenden Frage: „Warum ist die Friedensbewegung heute keine Massenbewegung mehr?“, genau dieser komplexen und für unsere Zeit so zentralen Frage nach und liefert Antworten:
Der desolate Zustand der Friedens- und Protestbewegung gegen Krieg und Aufrüstung ist Zeichen eines abgestorbenen gesellschaftlichen Dialogs, eines Endes von demokratischem Engagement und zivilisatorischem Fortschritt, von dem man glauben mochte, seit 1968 sei man dabei, ihn in kleinen Schritten gewonnen zu haben.
Was geschah in den letzten 40 Jahren – aber auch in den Jahrzehnten zuvor, denn die Nachkriegszeit dürfen wir nicht übergehen –, dass dieses Ergebnis möglich wurde? Erst wenn wir diese Entwicklung verstehen, wird die Friedensbewegung Aussicht haben, Zulauf und Sympathien zu bekommen. Ansonsten wird es dabei bleiben, dass eine klein bleibende Friedensbewegung leerdreht und zum demokratischen Feigenblatt degeneriert.
Konnten sich einst Proteste noch an Politikern, Intellektuellen, an Personen mit einem Renommee anlagern und entfalten und damit eine sich selbstverstärkende Resonanz erzeugen, so fällt dieser Impuls heute weg. Konnten die einstigen Protestbewegungen auf dem prägenden Untergrund von noch hautnahen Kriegserfahrungen, von Lehren, die man zu ziehen hoffte, von einer Emphase des Neubeginns Dynamik entfachen, haben sich die „Bodenverhältnisse“ heute geändert. Sie sind glatt und rutschig geworden, das Sensorium ist darauf gerichtet, einen legitimierten Korridor nicht zu verlassen und ansonsten das, was man denkt und fühlt, als Geheimnis zu behandeln [1].
Protest- und Friedensbewegungen haben es versäumt, zentrale Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge der letzten Jahrzehnte zu begreifen und über sie zu reden, sich darüber zu streiten, welche Strukturen und Triebkräfte die Gesellschaft bewegen. Insofern ist die Friedensbewegung Abbild der Gesellschaft und selbst in einem bedrohlichen Zustand des (Nicht-)Erkennens gesellschaftlicher Entwicklungen verfangen. Man könnte auch sagen: Sie (Friedensbewegung und Gesellschaft) haben die eigene Bildungs- und Reflexionsarbeit aufgegeben oder gar nicht erst begonnen. Beide befinden sich in einem ständigen Zyklus der Selbstberuhigung und der Bestätigung dessen, was ist. Die zerstörende Kraft des profitsüchtigen Kapitalismus und seine unterstellte Unumgehbarkeit, wie auch der in sich zusammengefallene Sozialismus scheinen alles radikale (an die Wurzeln gehende) Denken obsolet gemacht zu haben.
Die Eilfertigkeit, mit der Putin aus der Friedensbewegung heraus zum Kriegsverbrecher gestempelt wird, ist ein Hinweis darauf, wie mürbe die Unabhängigkeit der Friedensbewegung geworden ist. Die zahlreichen Verbrechen des sog. wertebasierten Westens, des westlichen, kolonialbasierten Kapitalismus, bleiben unerwähnt und werden verleugnet. Man könnte glauben, dass darin keine Quellen für Kriege, Krisen und Katastrophen liegen. Verzicht auf politökonomische und geopolitische Analysen scheinen zum Mittel geworden zu sein, um es sich mit den Herrschenden oder auch den ratlosen, verwirrten Massen, die man gewinnen will, nicht zu verderben. Zudem versucht man sich darin, dem staatlicherseits ausgerufenen Antifaschismus und einem sog. Kampf gegen rechts gerecht zu werden. Aber hat die Friedensbewegung dadurch an Resonanz gewonnen?
Was man als Übergang zu einer neoliberalen und postindustriellen Gesellschaft bezeichnen könnte, griff tief in die psychischen Apparate der Menschen ein. Die Menschen lernten, sich selbst und die Welt mit einem anderen Blick, dem der Konkurrenz, der Entsolidarisierung und des Marktes zu sehen. Ihr Denken und Fühlen wurde aus scheinbar stabilen Strukturen herausgerissen, die ihnen Wohlstand, soziale Sicherheit und Frieden versprachen und, verglichen mit heute, tatsächlich auch geboten hatten. Und nun wurde ihnen erzählt, dass das alles gefährdet sei, wenn sie sich nicht neoliberalen Forderungen unterwerfen würden.
Ihren Aufgaben und Pflichten in der Sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit nachzukommen (und von ihr zu profitieren), hatte die Menschen glauben lassen, so etwas wie Klassenkampf sei überwunden, ihre Bravheit und ihr Einverständnis mit den Eigentumsverhältnissen, die Absage an jeden widerständigen, rebellischen Geist würden belohnt werden. Sozialpartnerschaft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen sei möglich. So schon frühzeitig von Kapitalbesitzern und ihren politischen Vertretern auf nächste Schritte eingestimmt, erwarteten nicht wenige aus der Gruppe der arbeitenden Menschen das Paradies der flachen Hierarchien, die Freisetzung und Nutzung ihres unternehmerischen Geistes (wenngleich bei reduzierten Arbeitnehmerrechten). Dafür nahmen sie den Abbau von Gemeinwohlstrukturen hin, glaubten an die Segnungen von Privatisierungen und ÖPP (öffentlich-private Partnerschaft). So vollzog sich der neoliberale Coup. Eigentlich war schon das eine Kriegserklärung ohne Waffen an die Bevölkerung, die diese aber mehrheitlich leugnete.
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Jahrgang 1949, ist Diplom-Psychologe. Arbeitete bis 2014 als Schulpsychologe und Supervisor in Nordrhein-Westfalen und Hamburg. Gründete einen Berufsverband mit und beteiligte sich viele Jahre an Vorstandstätigkeit. Er bloggt gelegentlich und mit abnehmender Tendenz unter schulpsychologie-mietz.com (oder schulpsychologie.wordpress.com). Und verfolgt mit Grausen das nahezu vollständige Zusammenspiel der organisierten Psychologie mit der Macht (https://www.nachdenkseiten.de/?p=124625; Die Beugsamen, 2022 bei epubli.com) und freut sich um so mehr, wenn Psychologinnen und Psychologen eine subjektorientierte Psychologie stärken und historische Ansätze zur Förderung des Verstehens nutzen, gesellschaftsbewusst analysieren und beraten.
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