Deutscher Freidenker-Verband e.V. – Rheinl.-Pfalz / Saar

Der leere Stuhl – oder: Erinnerung lässt sich nicht ausblenden

Ein Essay von Sabiene Jahn

Original auf GlobalBridge

Ein Stuhl bleibt leer, wenn am 8. Mai 2025 der 80. Jahrestag des Kriegsendes begangen wird. Sergei Netschajew, der russische Botschafter, ist ausgeschlossen – ausgeladen durch eine Handreichung des Auswärtigen Amts, das ihn und Vertreter Belarus’ als unerwünscht erklärt. Die russische Botschaft spricht von einem „anmaßenden Eklat“, erinnert an 27 Millionen gefallene Sowjetbürger und fordert, den Genozid an den Völkern der UdSSR anzuerkennen. Während Berlin-Treptow seine Tore für russische Diplomaten öffnet, droht Brandenburg mit polizeilicher Räumung. Dieser leere Stuhl ist mehr als ein Platz, der unbesetzt bleibt: Er flüstert von einem Anwalt in Koblenz, der unbequeme Wahrheiten mit einem Lächeln abtut. Von einem Handwerker, der über die Krim stolpert und spürt, dass etwas in den Erzählungen nicht stimmt. Von einer Ukrainerin in Deutschland, die ihre Wahrheit über Hass und Gewalt in ihrer Heimat nur im Schatten wagt zu teilen.

Sergej Netschajew beim Elbe-Tag Torgau

Foto: Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland am Denkmal der Begegnung in Torgau, 25.04.2025. Klaus Hartmann begrüßte ihn herzlich im Namen des Deutschen Freidenker-Verbandes und dankte ihm für sein Kommen, ungeachtet der Bemühungen der Regierenden in Deutschland, eine russophobe, feindselige Atmosphäre zu schaffen.

Wer lieber hört als zu lesen:

 

Der 8. Mai naht. 80 Jahre nach jenem Tag, der in das kollektive Gedächtnis Deutschlands eingeschrieben ist als Tag der Befreiung – der Kapitulation des Dritten Reiches, der Sturz eines Regimes, das die Welt in den Abgrund gestürzt hat. Ein Tag, der vor allem eines bedeutet: Erinnerung an die Millionen Opfer, an die millionenfachen Retter. Und doch wird in diesem Jahr ein Stuhl leer bleiben. Das Auswärtige Amt hat entschieden: Der russische Botschafter ist unerwünscht bei den offiziellen Feierlichkeiten. Der Repräsentant jenes Staates, der einst als Teil der Alliierten das nationalsozialistische Deutschland zerschlug, bleibt draußen. Ausgeladen, weil der heutige Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht vereinbar sei mit dem Geist des Gedenkens. Eine Entscheidung, die mehr über das gegenwärtige Deutschland aussagt als über das vergangene.

Was wie eine moralische Haltung wirken soll, entlarvt sich bei näherem Hinsehen als politischer Offenbarungseid. Geschichte wird selektiv gelesen, instrumentalisiert für die Gegenwart. Man trennt Opfer von Opfern, Täter von Tätern – nicht nach der historischen Wahrheit, sondern entlang geopolitischer Zweckmäßigkeit. Die Sowjetunion, die einst 27 Millionen Tote in diesem Krieg zu beklagen hatte, wird zur Randnotiz, weil Russland heute Feindbild ist. Man redet über Auschwitz, aber schweigt über Leningrad. Man gedenkt der Befreiung, aber nicht ihrer Befreier. Das ist kein Fortschritt, das ist Geschichtsklitterung. Und doch: Nicht alle machen dabei mit. Die Stadtverwaltung von Berlin-Treptow – zuständig für das sowjetische Ehrenmal, wo über 7.000 Rotarmisten begraben liegen – stellt sich quer. Sie will das Gedenken nicht per Dekret entkoppeln von der historischen Wahrheit. Ob die Feierlichkeiten dennoch stattfinden können, wie es sich gehören würde, bleibt ungewiss. Der politische Streit überschattet seit drei Jahren diesen Tag in für mich unverzeihlicher Weise, der dem Erinnern gewidmet sein sollte. Auf dem Territorium Deutschlands befinden sich mehr als viertausend Grabstätten, in denen über 700.000 Sowjetsoldaten ruhen. Doch etwas wurde jedes Jahr deutlich: Es kamen trotz alledem viele Menschen. Vielleicht mehr denn je. Sie kamen, um Blumen niederzulegen. Um an jene zu erinnern, die hier begraben liegen – ungeachtet der aktuellen Feindbilder. Sie werden auch dieses Jahr da sein. Auch wenn ein Stuhl leer bleibt. Denn Erinnerung lässt sich nicht ausladen.

Gesicht des Systems

Wenige Tage nach der Nachricht aus dem Auswärtigen Amt – der Ausladung des russischen Botschafters – traf ich ihn. Einen alten Bekannten aus dem erweiterten Kreis meiner Familie. Anwalt, Anfang Sechzig, Geschäftsführer einer großen Kanzlei in Koblenz, gut im Geschäft, noch drei Jahre bis zur Pension. Ein Häuschen in bevorzugter Gegend, kleiner Garten, eine Frau, keine Kinder. Einer, der sein Leben auf sichere Fundamente gebaut hat. Wir kamen ins Gespräch. Über den Krieg, über die Ukraine, über das, was hierzulande niemand hören will – die nationalistischen Strukturen, die Gewalt, die Verbrechen, die nicht (mehr) in die Schlagzeilen passen. Denn im Jahr 2014/ 2015 hatte der Mainstream die Nazis in seinen reichweitenstarken Zeitungen und im Fernsehen konkret benannt – dann brachen diese Informationen abrupt ab und die Medien konzentrierten sich auf sogenannte Separatisten im Donbass.

Mein Bekannter lächelte. „Das glaub’ ich nicht,” antwortete er kurz. Ein Reflex. Keine Nachfrage, keine Neugier, kein Ringen um Wahrheit. Ein Satz, der alles abwehrte. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihm begegnete – und auch nicht das erste Mal, dass er sein Weltbild so klar verteidigte. Nach den Corona-Jahren, hörte ich ihn, vertrat seine Kanzlei die Kommunen. Gegen Bürger, die klagten – gegen Kritiker der Maßnahmen. Es war ein gutes Geschäft, sagte er. „Das Geschäft brummte.“  Er lachte dabei. Kein Witz, kein Augenzwinkern – eher die selbstzufriedene Feststellung, dass der Mechanismus funktioniert. Dass Angst Aufträge schafft. Dass der Druck der Medien, die Panik der Politik, die Überforderung der Bürger den Markt für Argumente am Laufen hält. Er war bereit, weiter zu profitieren. „Wenn es wieder eine Pandemie gibt – das Geschäft läuft wieder.“ Er sagte das, als wäre es eine logische Folge, ein Naturgesetz. Dass es gar nicht darauf ankommt, ob die Maßnahmen verhältnismäßig waren, ob die Evidenz stimmte. Der Mainstream hielt es für richtig – also verteidigte er es. Weil dort, wo Angst regiert und Anpassung zur Tugend wird, immer jemand profitiert. Er sagte das nicht zynisch, sondern als Selbstverständlichkeit. Ein System, das ihn nährte. Er lieferte die Argumente – nicht, weil sie wahr waren, sondern weil sie passten. Und weil er daran glaubte, nach all den Veröffentlichungen. Er hatte sich, wie er meinte, “auf die Impfung gefreut”. Er verteidigte Entscheidungen, die das RKI selbst in internen Protokollen längst als zweifelhaft einstufte. Einschätzungen, die zu Beginn der Grippewelle andere waren, bevor die Politik sie begradigte, das RKI unter Druck setzte – und die öffentliche Linie festzurrte.

Und dieser Anwalt? Er passte sich an. Er argumentierte für die Linie, die bezahlt. In Corona-Zeiten. Heute in der Ukraine-Frage. Sein Lächeln war kein Mangel an Information. Es war das Gesicht einer inneren Haltung: Was ich nicht glauben will, das ist nicht wahr. Er ist kein Einzelfall. Er ist ein Typus. Menschen wie er leben vom Gehorsam. Sie glauben, was ihr System von ihnen verlangt. Und sie sichern es ab – mit Paragrafen, mit Argumenten, mit der Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen. Diese Begegnung ließ mich nicht los. Sie war kein Zufall. Sie war ein Fenster auf die Frage: Wer trifft solche Entscheidungen? Wer lädt einen russischen Botschafter aus – 80 Jahre nach der Befreiung? Wer hält an den einfachen Bildern fest?

Der Anwalt war ein Symptom. Die Strukturen dahinter sind tiefer. Und so begann ich, genauer hinzusehen. Denn es sind Typen, die diese Entscheidungen tragen – keine Einzelpersonen. Sie handeln nach Mustern. Diese Muster bestimmen das Klima in den Amtsstuben, in den Beratungszimmern, in den Hinterzimmern politischer Macht. Es sind nicht immer dieselben Menschen – aber es sind dieselben Haltungen. Ich habe sie beobachtet, immer wieder. In verschiedenen Kontexten, in verschiedenen Systemen. Sie tauchen auf, wo Verantwortung abgegeben, wo Moral zur Staffage wird. Und diese Typen will ich beschreiben.

Der Karriere-Opportunist

Die Anpassung ist sein Prinzip: Er ist der Typus, der in jeder Regierung Bestand hat – egal ob unter Schröder, Merkel oder Scholz. Loyal zur Linie, biegsam im Rückgrat. Entscheidungen trifft er nicht aus Überzeugung, sondern aus Berechnung: Was stärkt meine Position, was vermeidet Konflikte nach oben? Im Fall des ausgeladenen Botschafters heißt das: Der Opportunist weiß genau, dass die Bundesregierung aktuell keinen Raum für historische Differenzierung lässt. Der moralische Druck, sich von Russland abzugrenzen, ist maximal. Der Opportunist liefert, was erwartet wird. Nicht aus Überzeugung – sondern aus Angst, aufzufallen. Oder schlimmer noch: anzuecken. Er ist das, was Hannah Arendt einst die Schreibtischtäter nannte – nicht aus böser Absicht, sondern aus gedankenloser Anpassung.

Der Überzeugungstäter ist Transatlantiker aus Prinzip: Ein anderer Typus ist nicht minder bedauerlich, aber aus anderem Holz geschnitzt. Der Überzeugungstäter glaubt an das, was er tut. Er sieht die Welt als Kampfzone von Gut und Böse – und Russland ist für ihn das Reich des Bösen. Aufgewachsen in den Denkfabriken westlicher Werte, sozialisiert in transatlantischen Netzwerken, glaubt er an das Primat des Westens: Demokratie, Menschenrechte, NATO. Alles, was diesen Block infrage stellt, ist Feind – und muss bekämpft werden, selbst auf symbolischer Ebene. Für ihn ist das Ausladen des russischen Botschafters kein diplomatischer Affront, sondern ein Akt moralischer Hygiene. Sein Problem: Er ist blind für die Grautöne der Geschichte. Er sieht nur das Heute, projiziert es rückwirkend auf das Gestern. Dass ohne die Rote Armee Auschwitz nicht befreit worden wäre? Für ihn nebensächlich. Die Ukraine ist der neue Fixpunkt seiner Welt – alles andere wird untergeordnet.

Wertloser Verwalter

Der Technokrat ist ein werteloser Verwalter. Er ist weder überzeugter Ideologe noch zynischer Karrierist. Er ist einfach jemand, der Prozesse managt. Für ihn ist Geschichte ein administratives Problem: Wer könnte sich durch den Auftritt des russischen Botschafters gestört fühlen? Welche Wellen schlägt das medial? Wie reagieren unsere Partner? Er denkt in Checklisten, nicht in Kategorien von Verantwortung. Für ihn zählt, was funktioniert, nicht, was richtig ist. Geschichte ist für ihn Kulisse, kein innerer Kompass. Dass historische Verantwortung auch moralischen Mut verlangt? Kein Thema für ihn. Und dieser blinde Glaube an Prozesse endet nicht bei der Politik. Er reicht bis in den eigenen Körper. Der Technokrat nimmt, was ihm verordnet wird. Medikamente, Maßnahmen, Einschränkungen – solange sie „offiziell“ sind, solange sie aus den richtigen Kanälen kommen. Er fragt nicht nach, ob es ihm guttut. Er fragt, ob es genehmigt ist. Manchmal erkennt man das schon an seiner äußeren Erscheinung. Fettleibigkeit ist hier kein Zufall. Sie ist der Ausdruck eines Körpers, der längst aufgibt, weil der Kopf nicht mehr hinhört. Weil die Achtsamkeit verloren ging, als die Prozesse wichtiger wurden als das eigene Leben. Der Technokrat vertraut den Strukturen mehr als sich selbst. Selbst wenn sein Körper längst etwas anderes sagt.

Mitläufer mit Restzweifel

Und es gibt jene, die nicht im System arbeiten, aber vom System leben. Es ist der Systemprofiteur und sein Geschäft mit der Angst: Anwälte, Berater, Unternehmer – die Argumente liefern, die das System braucht, um sich zu stützen. Sie haben keinen Eid auf Neutralität geschworen, keine Loyalität zu einer Partei, keinem Staatsdienst. Sie liefern – gegen Rechnung. Der Anwalt gehört hierher. Er ist kein Überzeugungstäter, kein Technokrat. Er ist Geschäftemacher. Sein Maßstab ist der Markt. Und solange der Markt von Angst lebt, solange die Politik Druck erzeugt, solange Medien Bilder liefern, die Panik erzeugen – brummt das Geschäft. Das war in der Pandemie so. Das ist im Krieg so. Wer Argumente verkaufen kann, verkauft sie – ohne zu fragen, ob sie wahr sind. Nur ob sie bezahlt werden.

Er lachte, als er erzählte, wie gut das Geschäft lief. Kein Hohn. Kein Zynismus. Einfach die Bestätigung: Das System funktioniert. Und wenn es wieder eine Pandemie gibt – läuft es weiter. Diese Profiteure halten das System nicht am Laufen, weil sie glauben – sondern weil sie verdienen. Und glauben daran.

Es gibt auch noch den Mitläufer mit Restzweifel, eine Mischform: Zwischen dem reinen Technokraten und dem Opportunisten gibt es jene, die noch spüren, dass etwas nicht stimmt. Sie haben die Prozesse verinnerlicht, sie folgen den Regeln, sie argumentieren mit dem, was sie gelernt haben – aber sie sind nicht taub für das, was in ihnen selbst vorgeht. Ein Weggefährte des Anwalts ist so einer. Er hörte zu. Zögerte. Und erst, als sein Körper nach den (selbst) verordneten nicht mehr das tat, was er sollte, als die Energie nachließ, der Antrieb schwand – begann er zu zweifeln. Nicht an allem, aber an genug, um das nächste Mal genauer hinzusehen. Diese Mischtypen sind das, was das System am dringendsten fürchtet: Menschen, die noch einen Rest Instinkt behalten haben. Die noch offen sind für den Bruch in ihrem Weltbild. Sie haben gelernt, dem Mainstream zu folgen – aber sie haben auch gelernt, dass der eigene Körper nicht lügt. Wenn sie zuhören – nicht nur nach außen, sondern auch nach innen – könnten sie den Unterschied machen.

Der entwurzelte Elitemensch ist fremd im eigenen Land, er ist der Funktionär, der nie gelernt hat, Geschichte als etwas Lebendiges zu begreifen. Aufgewachsen im selbstgefälligen Westdeutschland, fernab von Krieg, Verfolgung, Flucht. Geprägt von einem Selbstbild als Teil einer post-nationalen Elite, die sich mehr mit Brüssel und bislang auch mit Washington identifizierte als mit den Opfern von Leningrad oder Stalingrad. Für ihn sind diese Geschichten alt, fern, fast exotisch. Russland ist für ihn nicht Teil europäischer Erinnerung, sondern ein dunkler Fleck auf der geopolitischen Landkarte. Dass unter den Gräbern in Treptow vielleicht auch die Vorfahren heutiger Russen liegen? Eine Randnotiz. Ihn interessiert die Gegenwart, nicht das Erbe. Sie alle stehen sinnbildlich für ein politisches Klima, das Geschichte instrumentalisiert, um in der Gegenwart nicht zu stören. Und so bleibt der Stuhl leer.

Gehorsam als Konstante

Eine Freundin aus Sachsen-Anhalt sagte kürzlich etwas, das mir sehr nachging. Sie kennt den Osten, wie ich;  sie kennt den Westen, wie ich. Und sie kennt die Mechanismen des Mainstreams. „Zur Kaiserzeit schwor der Mainstream dem Kaiser die Treue. Als der gestürzt war, wurde, wer zu lange loyal geblieben war, verfolgt. Dann kam Hitler – und wieder folgte der Mainstream. Nach 1945? Dieselbe Logik: Wer gestern noch Beifall klatschte, wurde geächtet. Dann folgte die sozialistische Parteitreue, bis auch dieses System fiel. Und wieder wendete sich der Mainstream gegen seine einstigen Bannerträger. Heute rennt er der gendergerechten, klimaberauschten Pseudodemokratie und Cancel-Kultur hinterher, ordnete sie ein.“ Der Wunsch meiner Freundin: „Man kann nur hoffen, dass auch das einmal als Irrtum erkannt wird.“ Es ist die alte Geschichte. Die Narrative wechseln, der Gehorsam bleibt. Der Mainstream passt sich an – nicht aus Überzeugung, sondern weil es einfacher ist, zu folgen, als zu widerstehen. Er hält den Kurs, solange der Kurs stabil erscheint.

Die Typen, die ich beschrieben habe, sind keine Ausnahmen. Sie sind das Rückgrat dieses Gehorsams. Nicht weil sie glauben. Sondern weil sie es nicht riskieren wollen, im falschen Moment auf der falschen Seite zu stehen. Es ist ein Muster, das sich durch die Geschichte zieht – von der Kaiserzeit über Hitler, den Sozialismus bis ins Heute. Die Formen ändern sich. Die Parolen auch. Der Reflex bleibt. Und vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung in unserer Zeit: Nicht der nächste Irrtum. Sondern die Frage, ob wir ihn erkennen, bevor es zu spät ist.

Es gibt Stimmen, die lassen sich nicht in Typologien pressen. Keine Rollen, keine Narrative, keine politischen Lager. Nur die rohe Erfahrung eines Lebens, das von den Folgen dieser Entscheidungen gezeichnet ist.

Ukraine – Blick von innen

Ich erhielt Ostermontag einen Brief von einer geflüchteten Ukrainerin, die heute in Rheinland-Pfalz lebt. Sie kam auf mich zu, weil sie spürte, dass ich zuhöre, wo andere abblocken. Weil sie wusste, dass es Räume geben muss, in denen das Unsagbare gesagt werden kann. Dieser Brief ist einer dieser Räume. Sie schrieb mir am 21. April 2025. Eine Ukrainerin, die weiß, wovon sie spricht. Ihre Worte tragen den Schmerz eines Landes, das sich selbst verloren hat – und ist Mahnung an jene, die noch zuhören wollen. Ihren Namen, so bat sie mich, soll ich aus Sicherheitsgründen anonymisieren. Den übersetzten Text veröffentliche ich ausführlich.

B. schreibt:

„Es schmerzt mich, auf mein Land zu blicken, das blutet. Aber ich verstehe, dass dieser ganze Horror nicht enden wird, solange es kein allgemeines Verständnis und keine Reue gibt. Ich verstehe, dass wir selbst an dieser schrecklichen Tragödie schuld sind. Wir haben es schweigend zugelassen, dass eine nationalistische Minderheit ihre Ideologie aufzwingt und umsetzt. Nicht alle haben die Maidan-Proteste in der Ukraine unterstützt. Und selbst unter denen, die sie unterstützt haben, waren viele nicht mit den Parolen des Maidan einverstanden. Ich erinnere mich sehr gut, wie damals die Hauptparole des ersten Maidan kultiviert wurde: „Moskali (abfällige Bezeichnung für Russen, Red.) an den Galgen!“ und „Wer nicht hüpft, ist ein Moskali!“

Könnt ihr euch vorstellen, dass in Europa eine Menge Menschen auf einen Platz geht und brüllt: „Polen an den Galgen!“ oder „Deutsche an den Galgen!“ oder „Franzosen aufhängen!“? Deshalb, wenn man sagt, „die Ukraine ist ein Opfer der Aggression“, ist das eine Lüge. Die Ukraine hat alles Mögliche und sogar Unmögliches getan, um Russland zu provozieren. Acht Jahre lang wurden wir mit Hass gegen Russen aufgeladen, acht Jahre lang war die Hauptparole: „Moskali an den Galgen!“ Darauf wurden die Kinder erzogen. Es war ja lustig, zu hüpfen und zu rufen: „Wer nicht hüpft, ist ein Moskali!“ oder „Moskali an den Galgen!“ Das war ein Boom – Videos wurden gemacht, wie kleine Kinder, die gerade sprechen gelernt hatten, hüpfen und diese Parolen brüllen, während die Erwachsenen daneben lachten und die Kinder dafür lobten. Ich erinnere mich an ein Video, in dem ein kleines Mädchen hüpfte und brüllte, und ihr Vater fragte sie: „Was wirst du machen, wenn du groß bist?“ – und es schrie zurück: „Ich werde Russen abschlachten!“ Die Erwachsenen lachten. Und solche Videos gab es viele.

Krank vor Hochmut

Sagt mir, was für Menschen können aus solchen Parolen heranwachsen? Warum wurde niemand für solche Mordaufrufe zur Verantwortung gezogen – nennen wir die Dinge endlich beim Namen. Warum wurde das nicht unterbunden und niemand bestraft? Warum wurden die Besitzer von Restaurants in der Westukraine nicht zur Rechenschaft gezogen, die auf ihren Speisekarten „Filet russischer Säuglinge“, „Cocktail Gorlowka-Madonna“ oder „Set Allee der Engel“ und viele weitere abstoßend sadistische Namen stehen hatten? Die “Gorlowka-Madonna” – das war eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm, die im Juli 2014 in Gorlowka (Donezk) starb, als sie ihr Kind vor ukrainischen Granaten schützte. Die “Allee der Engel” – das ist ein Kinderfriedhof in Donezk für Kinder, die seit 2014 durch Beschuss von ukrainischer Seite ums Leben kamen.

Kann mir jemand sagen, dass dies das Verhalten eines Opfers ist? Nein, das ist das Verhalten von Menschen, die von Hass zerfressen sind und nach Blut dürsten. Das ist gewöhnlicher Nazismus in seiner reinsten Form. Und diese kleine Bande abgebrühter Nazis hat – natürlich nicht ohne Hilfe von Sponsoren aus Übersee – nacheinander Maidans organisiert und es geschafft, ein riesiges Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Leider war ein großer Teil der Gesellschaft leicht beeinflussbar. Einer der Todsünden ist Hochmut, und genau das ist hier ein leuchtendes Beispiel: eine ganze Nation ist tödlich krank vor Hochmut. Der Hauptslogan in der Ukraine lautet jetzt: „Ukraine über alles.“ Nicht Gott, nicht die Wahrheit, nicht die Gerechtigkeit – sondern die Ukraine an erster Stelle. Und die Ukrainer sind entsprechend die „höhere Rasse“.

Kommt euch (Deutsche, Red.) das bekannt vor?

Der Hass auf Russen ist einfach manisch geworden. Im ganzen Land werden historische Denkmäler zerstört, Straßen umbenannt, Bücher der größten Klassiker der Weltliteratur verbrannt, alles, was mit Russland zu tun hat, wird ausgelöscht. Und das begann nicht 2022, sondern 2014. Seit 2014 begann die Ukraine, ihre eigenen Bürger im Donbass zu bombardieren, weil sie sich weigerten zu hüpfen und zu brüllen: „Moskali an den Galgen!“, weil sie sich weigerten, ihre Denkmäler abzureißen und ihre Straßen nach Nazi-Verbrechern umzubenennen, weil sie in ihrer Muttersprache sprechen wollten. Über 50 Prozent der Bevölkerung im Donbass sind ethnische Russen, etwa 90 Prozent sprechen Russisch. Und dafür begann man, sie einfach zu bombardieren. Denn der Hass auf alles Russische war so groß, dass man meinte: Wer nicht alles Russische ablehnt, hat kein Recht auf Leben, der muss physisch vernichtet werden. Und ich frage noch einmal: Ist diese Ukraine ein armes, unschuldiges Opfer der Aggression?

Etwa 2019 führte eine internationale Psychologenorganisation Trainings in Tschernihiw (östlich von Kiew) für ukrainische Psychologen durch, die sich um Frauen kümmerten, die unter physischer und psychischer Gewalt gelitten haben. Einige von ihnen kamen aus den Frontgebieten Lugansk und Donezk. Sie berichteten von der Hölle, in der sie arbeiten mussten. Fast alle Schulmädchen in der Nähe der Frontlinie wurden vergewaltigt, regelmäßig. Eine Lehrerin wandte sich an den Kommandanten einer ukrainischen Einheit und bat ihn, seine Soldaten zu disziplinieren, weil bereits Mädchen schwanger wurden. Seine Antwort war grob und obszön: „Meine Soldaten sind Engel, und wenn du noch einmal kommst, wirst du es bereuen.“ Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber die Ukraine ist offensichtlich kein Opfer. Acht Jahre lang bombardierten sie den Donbass, töteten ihre eigenen Bürger, vergewaltigten Kinder. Und als das Maß voll war und die Antwort für diese monströsen Verbrechen kam, wurden wir plötzlich zum Opfer. Aber war der Donbass nicht Opfer der ukrainischen Aggression? Zwölf Jahre leben sie nun unter Beschuss. Dort ist eine ganze Generation von Kindern aufgewachsen, die nie Frieden gekannt haben. Wo ist die internationale Gemeinschaft, warum schließt sie die Augen vor der ukrainischen Aggression?

Unantastbare Kaste

Doppelte Standards. So kann man aus einem Verbrecher ein Opfer machen. So wird Weiß zu Schwarz und Wahrheit zu Lüge. Natürlich zerreißt es mein Herz, ich habe Freunde und Verwandte verloren – auch jetzt, nach 2022. Es ist alles sehr grausam und ungerecht. Aber ich verstehe auch, dass all das, was in der Ukraine passiert, eine Folge unserer eigenen Handlungen ist. Gibt es einen anderen Ausweg? Leider nein.

Selbst jetzt ändert sich nichts. Die Menschen haben Angst, auf Russisch zu sprechen. Ein Mann in Uniform schlug eine Frau in einem ukrainischen Restaurant ins Gesicht, weil sie ein russisches Lied auf dem Handy abspielte. Er sah wohlgenährt aus, solche kämpfen nicht an der Front. Diese Nazis prügeln die, die Russisch sprechen, nehmen ihnen das Geschäft weg. Wenn jemand sich weigert, sein Geschäft zu übergeben, wird er verprügelt, als Verräter bezeichnet, ins Gefängnis geworfen oder getötet. Die wahren Nazis kämpfen nicht an der Front. Sie nutzen den Krieg als Deckmantel für Raub. Verschwinden Menschen, fragt keiner. Krieg eben … Die „gerechte“ Sache: Russen haben kein Recht auf Leben, also ist es „Gerechtigkeit“, ihnen alles zu nehmen.

Abgeordnete der Werchowna Rada (ukrainisches Parlaments, Red.) propagierten seit 2014 interethnischen Hass. Sie erklärten Menschen aus dem Donbass zu zweitklassigen Menschen. Der Nazismus wurde nicht nur nicht unterdrückt, sondern auf höchster Ebene gefördert. Verbrechen, die Nazis begangen haben, wurden nicht untersucht, wodurch sie zu noch größeren Verbrechen ermutigt wurden. Der Sänger Skryabin wurde ermordet, weil er die Wahrheit über den Donbass sagte. Journalisten und Schriftsteller wie Oles Busina, Pawel Scheremet, Georgi Gongadse – diese Liste könnte ich lange fortsetzen – wurden getötet, weil sie zu viel Wahrheit sprachen. Und selbst Massaker wurden nicht aufgeklärt. In Odessa im Mai 2014 verbrannten Nationalisten Menschen im Gewerkschaftshaus bei lebendigem Leib. 42 Menschen starben – und niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Ist es da verwunderlich, dass diese Leute verstanden haben, dass sie eine unantastbare Kaste geworden sind, eine höhere Kaste? Welche Verbrechen sie auch begehen – niemand bestraft sie, im Gegenteil: Sie werden zu nationalen Helden gemacht, erhalten Ämter und Auszeichnungen. Sie selbst kamen an die Macht.

Einige Krankheiten können nur operativ geheilt werden. Die Ukraine lässt sich nicht ohne einen chirurgischen Eingriff heilen.

Bruno Jasieński sagte einmal: ‚Mit dem stillschweigenden Einverständnis der Gleichgültigen geschehen alle Verbrechen der Welt.‘ Wir haben das wieder bestätigt. Mit unserem Schweigen ließen wir all das geschehen. Aber es ist nie zu spät für Einsicht und Reue. Und noch etwas: Wer dieses Regime unterstützt, der mein Land ins Elend gestürzt hat, wird sein Mithelfer.“

[Ende des Briefes]

Unbequeme Wahrheit

Man kann diesen Brief lesen und dann weitermachen, als wäre nichts gewesen. Viele tun das. Sie überfliegen ihn, suchen nach Fehlern, nach Widersprüchen, nach irgendetwas, das ihn entwertet. Weil es leichter ist, den Absender infrage zu stellen, als den eigenen Blick auf die Welt. Was diese Ukrainerin schreibt, ist unbequem. Es passt nicht zum Bild, das der Westen von der Ukraine gezeichnet hat. Es passt nicht zu den Parolen auf den Regierungs-Webseiten, nicht zu den Statements der Außenministerin, nicht zu den Schlagzeilen, die den Krieg in klare Rollen aufteilen: Täter hier, Opfer dort. Aber Wahrheit schert sich nicht um Schlagzeilen. Und dieser Brief ist ein Stück Wahrheit, das nicht gebogen werden kann.

Er legt offen, was westliche Politiker, Medien und Analysten seit Jahren verdrängen: Dass es in der Ukraine Nationalismus gibt, der längst zur Staatsideologie geworden ist. Dass dieser Nationalismus von Gewalt lebt, von Hass auf alles Russische, auf alles, was nicht in die eigene Erzählung passt. Wer das benennt, riskiert etwas. In der Ukraine das Leben. Hier in Deutschland vielleicht nur den guten Ruf, den Zugang zu Aufträgen, zu Netzwerken. Aber es reicht, dass viele schweigen.

Die Ukrainerin, auch sie schweigt – meist. Weil sie weiß, dass das Risiko bleibt, selbst hier. Zu viele sind unterwegs, die prüfen, wer sich zu viel erlaubt. Wer das falsche Lied hört. Wer die falschen Fragen stellt. Ich habe ihr zugehört. Und ich tue, was in meiner Macht steht: Ich schreibe es auf. Nicht um Mitleid zu erzeugen, sondern um der Verdrängung die Stirn zu bieten. Weil das Schweigen sonst die Oberhand behält. Die Wahrheit, die sie schildert, ist keine russische Propaganda. Es ist gelebte Erfahrung. Und sie ist unbequem, weil sie uns zwingt, die Rolle des Westens in diesem Krieg anders zu betrachten. Es gibt hier Menschen, die diesen Brief nicht hören wollen. Menschen, die ihre eigene Wahrheit zementieren – festgefahren im Glauben, auf der richtigen Seite zu stehen.

Die Stimmen, die schweigen

Es ist nicht nur das Lachen des Anwalts, das schwer wiegt. Es ist das Schweigen derer, die längst verstummt sind – nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil sie Angst haben. Angst vor den Konsequenzen, die ihre Wahrheit haben könnte. Für sich selbst, für ihre Familien, für ihre Freunde, die noch in der Ukraine leben. Ich habe mit ihnen gesprochen. Mit jenen ukrainischen Geflüchteten, die nach Deutschland kamen – geflohen vor dem Krieg. Geflohen vor einem Nationalismus, der sich im Westen Europas niemand vorstellen will. Geflohen vor Bomben, vor Hass, vor dem, was dieser Krieg mit den Menschen gemacht hat und immer noch macht. Wenn sich Männer irgendwo verstecken, um nicht an die Front zu müssen.

Doch sie schweigen. Weil sie wissen, was hier passiert, wenn man eine andere Geschichte erzählt. Wenn man sagt, dass es in der Ukraine nicht nur Opfer, sondern auch Täter gibt. Dass Azov nicht nur irgendein Bataillon ist, sondern eine Bewegung, die ideologisch fest verwurzelt ist – im Neonazismus, in Menschenverachtung, in Gewalt. Sie wissen, dass es Strukturen in Deutschland gibt, Netzwerke von Ukrainern, die mit staatlicher Unterstützung arbeiten, die offiziellen Narrative zu stützen. Die jeden, der als „pro-russisch“ gilt, beobachten, markieren, bedrohen. Selbst hier – in Deutschland. Deshalb bleiben sie still. Deshalb sagen sie: Bitte, sag du es für uns. Sei unsere Stimme. Sei unsere Brücke. Ich habe diese Brücke schon einmal gebaut.

2018, in Donezk. Ich habe gesehen, was deutsche Medien nicht zeigen wollten. Die Donnerschläge der Granaten. Die Häuser ohne Dächer, ohne Fenster. Die Kinderheime voller elternloser Seelen, die den Krieg nicht begreifen konnten. Und ich habe mit Alexander Sachartschenko gesprochen, dem Präsidenten der Volksrepublik Donezk, bevor er ermordet wurde. Auch er war ein Teil dieser anderen Geschichte – die im Westen nicht erzählt werden durfte. Deshalb trifft es mich, wenn jemand wie der Anwalt aus Koblenz lacht. Weil dieses Lachen nicht nur mich trifft. Es trifft auch sie – die Kinder in Donezk. Die Alten, die nie aus den Kellern herausgekommen sind. Die Geflüchteten hier, die sich nicht trauen, die Wahrheit zu sagen. Es ist ein Lachen, das alles übertönt, was nicht ins Bild passt. Doch es gibt Worte, die lassen sich nicht übertönen.

Ein Gespräch, das etwas bewegt

Nicht jeder, dem das falsche Narrativ verkauft wurde, bleibt darin gefangen. Manchmal reicht ein Gespräch, um Risse sichtbar zu machen. Ein enger Freund von mir, er kommt aus Mayen, traf neulich einen Handwerker. Ein Mann, bodenständig, überzeugt davon, gut informiert zu sein – schließlich sagen es alle Medien: ‚Die Russen haben die Krim überrannt.‘ Ein Satz, wie aus dem Lehrbuch der westlichen Narrative. Doch während des Gesprächs begann er zu stocken. Ihm fiel, so berichtet mein Freund, selbst auf, dass ihm etwas fehlte: Dass er nichts wusste von der Schwarzmeer-Flotte auf der Krim. Dass ein Vertrag der Ukraine den Russen bis 2042 das Recht gab, dort stationiert zu sein. Dass es ein Referendum der Krim-Bevölkerung gab. Und dass der Putsch in Kiew 2014 – von den USA maßgeblich eingefädelt  – der eigentliche Bruch, der Grund für das Referendum auf der Krim war. Je länger sie redeten, so mein Freund, desto klarer wurde: Das, was er glaubte zu wissen, war lückenhaft. Es war kein Streit. Kein Überzeugen mit dem Hammer. Es war ein Gespräch, das zeigte: Wo Wissen fehlt, wächst Zweifel. Und wo Zweifel wächst, entsteht Raum für Neues. Nicht jeder bleibt im Reflex stecken. Manche brauchen nur den richtigen Moment, die richtigen Fragen.

Das vergessene Kapitel

Die Archivprotokolle, die vor wenigen Tagen aus russischen Beständen veröffentlicht wurden, sprechen eine klare Sprache. Sie dokumentieren die systematische Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener in den  Konzentrationslagern des Dritten Reichs – ein Kapitel, das im westlichen Gedächtnis kaum noch eine Rolle spielt. Im Verhörprotokoll des Lagerkommandanten Anton Kaindl vom 20. Dezember 1945 heißt es: „Ich erkenne an, dass das Konzentrationslager Sachsenhausen unter meiner direkten Aufsicht ein Ort der massenhaften Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener war, ebenso wie politischer Gegner und Zivilisten aus den besetzten Gebieten der UdSSR.“ Diese Vernichtung geschah nicht nebenbei. Sie war Teil eines geplanten Systems, das gezielt auf die Auslöschung sowjetischer Soldaten und Zivilisten ausgerichtet war. Kaindl bestätigt, dass sowjetische Kriegsgefangene – meist Angehörige der Roten Armee – innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft liquidiert wurden, oft ohne Registrierung, ohne Spuren. Ein weiteres Protokoll beschreibt das Vorgehen: „Auf direkten Befehl Himmlers wurde ab 1941 ein System der Aussortierung errichtet: Arbeitsfähige Kriegsgefangene wurden der Rüstungsindustrie zugeführt, der Rest – insbesondere politische Kommissare, Intellektuelle und Offiziere – wurde unmittelbar ermordet.“ Diese Praxis wurde konzertiert in allen Lagern des Reiches durchgeführt, Sachsenhausen war nur ein Ort von vielen. Die Vernichtung war so umfassend, dass sie kaum dokumentiert wurde – viele der Opfer erschienen nie in den offiziellen Lagerlisten. Medizinische Experimente: der organisierte Sadismus.

In einem der Protokolle schildert Anton Kaindl präzise die Rolle des Konzentrationslagers Sachsenhausen als Schauplatz medizinischer Verbrechen: „Im Zeitraum von 1942 bis 1944 wurden im Lager Sachsenhausen auf Anweisung Himmlers und unter Aufsicht des ärztlichen Leiters des SS-Konzentrationslager-Inspektorats zahlreiche medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt.“ Ein besonders grausames Kapitel betraf die sogenannte „Kompanie der Läufer“. Kaindl beschreibt: „Die ‚Kompanie der Läufer‘ wurde eingesetzt, um neue Modelle militärischer Schuhe für die Wehrmacht zu testen. Gemäß dem Vertrag zwischen dem SS-Konzentrationslager-Inspektorat und dem Reichswirtschaftsministerium mussten die Häftlinge täglich bis zu 40 Kilometer laufen, mit Gewichten auf dem Rücken, über verschiedenste Untergründe – zehn Tage lang ohne Unterbrechung. Viele von ihnen brachen zusammen oder starben an Erschöpfung.“ Das Lager war auch ein Ort für medizinische Experimente unter Aufsicht von SS-Ärzten. Kaindl gibt zu: „Es wurden verschiedene Tests durchgeführt, darunter zur Wirkung von chemischen Substanzen, Injektionen von Krankheitserregern, Operationsversuche ohne Betäubung.“ Diese Experimente waren nicht medizinisch motiviert, sondern Ausdruck eines Systems, das Menschen zur reinen Verfügungsmasse degradierte.

Verführbarkeit einer Gesellschaft

Er ist ein netter Mensch, ohne Frage. Ein Mann, der sein Leben gut eingerichtet hat, dieser Anwalt, Geschäftsführer der großen Kanzlei, drei Jahre noch bis zur Pension. Ein Häuschen, eine Frau, keine Kinder. Er isst gern, trinkt gern, lebt in einem Wohlstand, den er sich verdient hat – so wird er es sehen. Er ist einer von vielen. Einer, der sein Berufsleben damit verbracht hat, Argumente für das System zu finden – gegen Bürger, die klagten, gegen Zweifel, die störten. Während Corona verteidigte er die Kommunen, wenn es darum ging, staatliche Maßnahmen abzusichern. Und heute? Wäre er geneigt, dieselben Argumente wiederzufinden, wenn es um den Ukrainekrieg geht. Seine Haltung ist kein Zufall. Sie ist das Ergebnis eines Lebens, das gelernt hat, den Fluss der Dinge nicht zu stören. Er glaubt, was stabil hält. Er zweifelt, wenn es ungefährlich ist.

Als ich ihm von den nationalistischen Strukturen in der Ukraine erzählte, von den Stimmen der Geflüchteten – da reagierte er, wie man es von einem erfahrenen Anwalt erwarten würde: Mit Abwehr. Mit einem Lächeln. „Das glaub ich nicht.“ Nicht weil ihm Beweise fehlten. Sondern weil diese Beweise keine Funktion in seinem Weltbild haben. Ein Weltbild, das gebaut ist aus den Nachkriegsnarrativen des Westens: Russland als Feind, die NATO als Schutzmacht, Demokratie gegen Despotie. Ein Bild, das in den 80 Jahren nach der Befreiung gepflegt wurde wie ein Garten, in dem alles wächst, solange es den Zaun nicht sprengt. Ich kenne diese Menschen. Ich bin mit ihren Weggefährten im Gespräch – auch sie bemüht, an Informationen zu kommen, die nicht auf Spiegel-Online enden. Sie hören zu, sie fragen nach, sie bleiben höflich. Und doch landen sie immer wieder dort, wo sie angefangen haben. Weil es schwer ist, die innere Architektur eines Weltbildes einzureißen, das einen Jahrzehnte getragen hat. Ich schicke ihnen Podcasts – mit John Mearsheimer, mit Ivan Katchanovski, Stimmen aus den USA und Kanada, Wissenschaftler, die keine russische Propaganda brauchen, um die Realität zu beschreiben. Ich hoffe, sie hören zu. Ich hoffe, es stört das Muster, das sie kennen. Aber ich weiß auch: Es braucht mehr als Informationen.

Es braucht Mut, die eigene Position zu hinterfragen, wenn man jahrelang daran geglaubt hat. Es braucht die Bereitschaft, auf Sicherheiten zu verzichten – auf ideologische wie auf materielle. Die Ukrainerin, die mir den Brief schrieb, hat diesen Mut gefunden. Und ich frage mich, was es kostet, ihn zu finden. Vielleicht ist es Schuld, wie sie schreibt. Vielleicht ist es auch Einsicht in die Verführbarkeit einer Gesellschaft, die glaubte, der Westen bringe Wohlstand und Freiheit, und stattdessen ihre eigene Würde verraten hat. Die Deutschen haben das auch erlebt vor über 80 Jahren. Sie haben sich verführen lassen – von Macht, von Ideologie, von der Hoffnung, dass man immer auf der Gewinnerseite steht, wenn man nur rechtzeitig die Zeichen liest. Und am Ende? Vergessen sie, was war. Vergessen sie, wem sie etwas schulden. Das ist der Preis für Bequemlichkeit: Man schaut weg, wenn es unbequem wird. Man glaubt, was zahlt. Man argumentiert für das, was bleibt. Vielleicht ist das die Quintessenz nach 80 Jahren Befreiung: Wir wollen niemanden verärgern. Wir wollen keine finanziellen Quellen verlieren. Aber es ist auch die Chance, dass jemand zuhört – und beginnt, das zu durchbrechen.

Angst, das Falsche zu erkennen

Vielleicht ist das genau der Grund, warum der russische Botschafter zum 80. Jahrestag der Befreiung ausgeladen wurde. Nicht, weil man ihn fürchtet – sondern weil man die Geschichte fürchtet, die er mitbringt. Die Erinnerung daran, dass Befreiung nie nur ein westliches Projekt war. Dass der Sieg über den Faschismus nicht ohne die Opfer jener möglich war, die man heute zu Gegnern erklärt.

Der leere Stuhl wird bleiben. Er ist mehr als ein diplomatisches Zeichen. Er ist das Symbol für einen Mainstream, der gelernt hat, zu folgen. Damals Hitler. Später der Regierung, als Grundrechte suspendiert wurden. Heute dem Narrativ über die Ukraine – simpel, bequem, angepasst. Aber war es je richtig? Hat der Mainstream jemals die Geschichte verstanden? Oder ist das seine Konstante: folgen, glauben, verdrängen?

Meine Freundin fragt genau das: ‚Warum reicht es nie, einmal geirrt zu haben?‘ Vielleicht, weil es einfacher ist, die Welt in klare Linien zu teilen. Vielleicht, weil das Zuhören schwerer ist als das Glauben. Aber Gedenken – echtes Gedenken – verlangt mehr. Es verlangt, die Geschichte in all ihren Brüchen auszuhalten. Nicht nur zu erinnern, was passt. Sondern auch das, was stört. Vielleicht ist das die eigentliche Befreiung, die wir nach 80 Jahren noch immer schulden: Uns selbst zu befreien vom Reflex des Gehorsams. Vom bequemen Glauben an das einfache Bild. Von der Angst, das Falsche zu erkennen – und daraus Konsequenzen zu ziehen. Solange wir das nicht tun, bleibt der Stuhl leer. Nicht für Russland. Sondern für uns.

Der Nazismus, von dem ich spreche, ist zu groß, um ihn zu sehen. Wie ein Elefant im Raum – aber so gewaltig, dass es leichter ist, ihn unsichtbar zu machen, als ihn anzuerkennen. Der Anwalt konnte ihn nicht sehen. Nicht, weil er blind ist. Sondern, weil sein Leben – sein Wohlstand, sein Glaube an die eigene moralische Position – diesen Elefanten nicht aushält. Aber der Nazismus existiert. Er trägt neue Farben, neue Fahnen, neue Narrative – und er lebt. Und wer ihn nicht sehen will, macht ihn nicht kleiner. Er macht ihn nur gefährlicher.

Der Stuhl bleibt leer – aber die Menschen kommen trotzdem. Weil die Geschichte nicht ausgesperrt werden kann.

  1. Einleitung: Das Massaker, das die Ukraine und die Welt veränderte: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_1
  2. Widersprüchliche Narrative über das Maidan-Massaker in der Ukraine: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_2
  3. Videorekonstruktion und Inhaltsanalyse des Maidan-Massakers am 20. Februar 2014: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_3
  4. Zeugenaussagen von mehreren Hundert Zeugen und 14 geständigen Maidan-Scharfschützen: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_4
  5. Aussagen verletzter Maidan-Aktivisten und weiterer Zeugen im Prozess und bei Ermittlungen: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_5
  6. Forensische ballistische und medizinische Untersuchungen durch ukrainische Regierungsexperten: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_6
  7. Das Massaker am 18.–19. Februar 2014 und weitere Gewalt während des Euromaidan: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_7
  8. Gerichtsurteil zum Maidan-Massaker sowie Vertuschung, Blockade und Manipulation von Beweismitteln: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_8
  9. Schlussfolgerungen und Auswirkungen auf den Russland-Ukraine-Krieg und andere Konflikte in der Ukraine: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-031-67121-0_9

 

Freidenkerin Sabiene Jahn studierte Kommunikation der Werbewirtschaft und arbeitet als Journalistin, Moderatorin, Sängerin und Synchronsprecherin. Sie beschäftigt sich mit gesellschaftspolitischen Themen sowie der Recherche extremistischer Strukturen.

Sabiene Jahn, Screenshot aus NATO-AKTE: 05.03.2022

Sabiene Jahn organisiert die parteifreie Veranstaltungsreihe „Koblenz: Im Dialog“, um gesellschaftspolitischen Austausch zu fördern. Als Friedensaktivistin entwickelt sie Konzepte zur Deeskalation und Inklusion, u.a. auf dem Kanal DruschbaFM. Zudem leitet sie das internationale Musikensemble „Nobel Quartett“.

siehe auch:

Klaus Hartmann: 80 Jahre Begegnung an der Elbe – Stadt Torgau gestaltet einen Tag der Würdelosigkeit

(inkl. Bilder-und Videogalerie)

Tapferer Soldat – Ein Gespräch mit Sabiene Jahn und Johannes Heibel

 


Bild(er): Botschafter Sergej Netschajew: Wladislaw Sankin; Pixabay (Ralphs_Fotos); Screenshot aus Video NATO-AKTE vom 05.03.2022

 

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 06. Mai 2025 um 16:01 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Allgemein abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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